zuadraht
sein. Mein Finger streichelt den Abzug, der Druck wird ganz langsam stärker, dann löst sich der Schuss. Der Knall zerreißt die Geräusche des Waldes. Der Vogellärm verstummt. Oben, hinter den Zinnen, kümmern sich wohl die meisten um die Gestürzte, aber einige Köpfe blicken dorthin, wo es geknallt hat. In meine Richtung. Genau nach Plan.
Ich klettere rasch hinunter zur Plattform und mache mich dabei so groß, dass mich dort oben alle sehen können, dann werfe ich das Gewehr in weitem Bogen weg. Ich kann ihre Schreie hören und nehme an, dass auf den Zinnen heftig gestikuliert und in meine Richtung gedeutet wird.
Ich klettere auf den Zaun richte mich nochmals hoch auf und brülle dann, so laut ich kann, meinen Satz: ES IST VOLLBRACHT! Ich hoffe, dass ihn die dort oben hören können. Für sie ist es Hansers letzter Satz. Dann springe ich.
Für die Beobachter in der Ruine kann es keinen Zweifel geben. Der Schütze hat sein Lebenswerk getan und ist soeben in den Tod gesprungen!
Zuerst lande ich auf der Wiese neben dem Kreuzfelsen, dann greife ich nach dem Seil und lasse mich daran tiefer in den Wald hinein gleiten. Jetzt bin ich für alle anderen tatsächlich unsichtbar. Ich löse das Seil, schlinge es, so wie um den Zaunpfosten, um einen Baum und verschwinde ganz. Adieu, Schleimi!
*
Der erste Gedanke soll der beste sein, weil der erste Gedanke der reine ist, der unbeeinflusste, der unbefleckte, jener, vor dem es keinen gegeben hat, eine unbefleckte Eingebung frei von Suggestion. Aber dass die Eingebung etwas mit Genialität zu tun haben könnte, muss ich seit soeben entschieden zurückweisen, dachte ich. Mein erster Gedanke nach dem Anruf aus der Funkleitzentrale, meine Eingebung, wenn Sie so wollen, galt Chefredakteur Stocker. Was also, frage ich, hat das mit Genialität zu tun? Chefredakteur Stocker und seine vor Monaten für alle Fälle (man weiß ja nie) vorgefertigte Titelseite mit der toten Landeshauptfrau in Händen, und die fetten Lettern, aus denen die aufgesetzte Anteilnahme triefte: Die Steiermark versinkt in Trauer. Unsere Landesmutter ist tot. Sollte der Stocker womöglich doch mit drinhängen? Ein von langer, chefredaktioneller Hand geplantes Komplott? Und der Hanser als operativer Mittelsmann? Absurd, oder?
Ich peitschte meinen Wagen der Auffahrt der Burgruine Gösting zu, verschnürt in ein Bündel wirrer Gedanken, das mich sogar vergessen ließ, den Hofer zu singen. Nicht ein Tönchen des griffigen Refrains kam über meine Lippen. Ein Attentat auf die Landeshauptfrau? Kopfschuss? Tot? Und ein Mörder, der nach seiner Bluttat das Gewehr von sich geschleudert hat und schreiend und vor aller Augen über die Felswand in den Tod gesprungen ist? Mehr war da nicht an erster Information. Stattdessen ein Kopfsummen und Kopfbrummen wie im Bienenhaus. Und ein Ferri Leimböck mit dem Bleifuß, den er sonst nicht hat.
Auf die Idee, einen Anrainer zu schlagen, käme ich niemals. Präziser sollte es heißen: Auf die Idee, einen Anrainer zu schlagen, wäre ich niemals gekommen. („Wie sind Sie bloß auf die Idee gekommen, einen Anrainer zu schlagen? Einen Anrainer!“, sollte der Kurze Stunden später schnauben, unschlüssig, ob er mich nun ins Disziplinarverfahren schicken oder belobigen solle für das, was da jetzt noch kommt. So betrachtet, war auch das unbestreitbare Faktum, dass ich dem Anrainer eine gegeben hatte, eine Art von Eingebung, wenn Sie so wollen. Ausgerechnet einem Anrainer. Als wäre der Anrainer eine schützenswerte, vom Aussterben bedrohte Spezies. Dass der Anrainer nicht mehr als ein Grenznachbar ist, war mir erst viel später in den Sinn gekommen, ein Grenznachbar wie jeder andere auch, einer, der sich zu seinem Nachbarn hin abgrenzt, und das tut ja wohl ein jeder. So betrachtet, hatte ich später überlegt, ist der Anrainer ein Jedermann. Und der altbekannten Alles-ist-nichts-Philosophie zufolge ist ein Jedermann zugleich auch ein Niemand. Die Hand, aus einer dienstlichen Notwendigkeit heraus, gegen einen Niemand zu erheben, ist da ja wohl von anderer, von minderer, strafmindernder Qualität, nicht wahr?)
So stand er also da, der als Anrainer getarnte Jedermann (Niemand). Grimmig, unbeugsam, die Hand zum Stoppschild erhoben und im Weg. Was baut er sich auch dorthin, wo der geteerte Teil der Zufahrtstraße zur Ruine in den schotterigen, unbefestigten übergeht?
„DA IST FAHRVERBOT“, schrie er. Und schleuderte mir aus hochrotem Gesicht Dinge ins Gesicht wie Lärmbelästigung,
Weitere Kostenlose Bücher