zuadraht
Mittdreißiger, der mir bisher nicht aufgefallen war. Ein Kollege des verunglückten Sicherheitsmannes der Landesregierung. Er stand in dem gegen Nordosten ausgerichteten Turmeck. Wie beim Boxen, dachte ich, zur Linken der Insektenkopf mit dem Notarzt und zur Rechten sein Kontrahent mit schwarzen Spiegelglassonnenbrillen, zwei schwer angeschlagene Gegner, die in den gegenüberliegenden Ecken in den Seilen hängen und sich laben lassen. Bloß dass dieser hier seinen Betreuer in einer Zigarette gefunden hatte, an der er mit tiefen, gierigen Zügen sog. Er schien bedeutend gefasster zu sein als sein Schrägvisavis.
Da sei ein peitschender Knall gewesen, Schreie auf dem Turm, einige, die in Deckung gesprungen, andere, die wie paralysiert stehen geblieben seien, eine Frau, an die erinnere er sich besonders gut, sagte er, sei kreischend auf und ab gelaufen, die Hände wieder und wieder vors Gesicht schlagend; da sei die Landeshauptfrau gewesen, die über dem Rednerpult zusammengesackt und zu Boden gesunken sei; da sei das Blut gewesen, das in heftigen Schüben aus der klaffenden Kopfwunde gepulst habe; da seien ein paar, darunter auch er, gewesen, die instinktiv an die Brüstung gestürzt seien und aus der Distanz einen Mann in blauem Overall gesehen hätten, der über die Absperrung der Plattform geklettert sei, sein Gewehr von sich geschleudert und einen Schrei losgelassen habe. Etwas wie: Es ist vollbracht. Oder so ähnlich. Es sei gewesen, fügte er hinzu, als habe er gewartet, bis Publikum vorhanden sei. Erst dann sei er in die Tiefe gesprungen.
Eine Mischung aus Wut und Ohnmacht stieg in mir hoch. Vier Menschen hat dieser Irre auf dem Gewissen, überlegte ich, vier Menschen hat er hingerichtet und wir konnten es nicht verhindern. Ein Verrückter, der nach Belieben mordet, über das Schicksal anderer bestimmt, als treffe er im Wirtshaus die Menüauswahl. 1 x Beuschel für l x Herzstich; 1 x Rindsbraten, gut abgehangen, für 1 x Aufknüpfen; 1 x Lungenbraten für 1 x Ersticken; 1 x Hirn mit Ei für 1 x ausgehöhlte Landeshauptfraubirne. Ganz nach Belieben. Nach Lust und nach Laune. Ein Herrscher über Leben und Tod. Einer, dem es Vergnügen bereiten muss, Angst und Schrecken zu verbreiten, seine Macht zu demonstrieren und der gesamten Grazer Polizei auf der Nasenspitze herumzutanzen. Das Schlagen von Rotorblättern riss mich aus meinen Überlegungen. Der Hubschrauber stand dicht am Fels, ein schwarzer Schatten huschte aus der offenen Seitentüre, balancierte auf der rechten Kufe, wand die Hände um das Seil, das um seine Hüfte gegürtet und mittels Karabiner gesichert war, und glitt langsam abwärts. Dann ein zweiter Schatten mit derselben Abfolge. Das musste die Stelle sein, wo der Körper des Schützen lag. Es ist vorbei, sagte ich mir erleichtert, ohne in diesem Moment weiter darüber nachzudenken. Aus und vorbei. Ein selbst ernannter Richter, der sich letztlich auch selbst gerichtet hat. Es ist vorbei. Ich ahnte nicht, wie sehr ich mich täuschen sollte. Denn der Instinkt ist mitunter trügerisch und ein schlechter Berater der Hoffnung.
Ich wandte mich wieder der toten Landeshauptfrau zu und sah Bela, wie sie hinter Michelin stand und ihm wie im magnetischen Wechselspiel aus Anziehung und Abstoßung über die Schulter linste. Sie wirkte frisch und vom kurzen, aber steilen Treppenanstieg keinesfalls beansprucht. Michelin keuchte immer noch. Sie wechselten ein paar Worte, die vom Wind als unverständliches Gemurmel in gegenläufiger Richtung fortgetragen wurden, mitten hinein in die hoch aufragenden, den Bergfried im Halbkreis umkränzenden Mischwaldkronen. Als Bela mich erblickte, lächelte sie mir kurz und etwas verbittert zu und zog die Brauen zu einer Miene aus fragender Ratlosigkeit und wutentbrannter Resignation hoch. Was hat sie bloß?, dachte ich, immer noch gefangen in der eindimensionalen Wirkung des Glaubens, dass es vorbei sei.
Auf mein Stirnrunzeln hin tat sie ein paar Schritte auf mich zu. „Michelin ist meiner Meinung.“
„Deiner Meinung worüber?“
„Nenn es, wie du willst. Ein flaues, nicht näher definierbares Gefühl. Wenn es sein muss, weibliche Intuition?
„Was denn jetzt?“
„Ich wette, dass dort unten nicht unser Mörder liegt.“
„Du wettest also, dass dort unten nicht unser Mörder liegt.“
„Genau.“
Du wettest also, habe ich soeben gesagt, dachte ich. Also. Ein kleines unbedeutendes Also. Und doch zog es die Tragweite ihres flauen, nicht näher definierbaren
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