zuadraht
zu laut entwischt war, hatte genügt, ihn seiner Gedrücktheit und Verdrossenheit von vorhin zu entwinden und den Verlust der Stoßfedern, die ich ihm gerupft hatte, vergessen zu machen. Stocker fand die alte Überheblichkeit wieder und sein chefredaktioneller Spürsinn glitt majestätisch über mich hinweg.
„Ich bin schon unterwegs, Kurt“, sagte ich, drückte die rote Taste meines Handys und wandte mich an Stocker. Du musst ihm gleich wieder die Schwingen stutzen, dachte ich und schnauzte ihn barsch an: „Es wird Zeit, Farbe zu bekennen, meinen Sie nicht?“
Stocker gab sich unbeeindruckt. „Wer hat wen aufgeknüpft?“ Die weichen, angstvollen Züge, die bis vor wenigen Augenblicken noch seine Visage beherrscht hatten, waren gewichen. Er sprach aus frisch gehärteter Miene.
„Wie komme ich aus dem Schlamassel wieder heraus? Das ist die einzige Frage, die Sie frei haben, Herr Chef-re-dak-teur, und die geht an Sie selbst, verstanden?“
Stocker kniff die Augen zusammen.
„Sie bringen mich jetzt zum Büro vom Hanser“, fuhr ich fort, „damit ich die Türe versiegeln kann. Sie wissen schon, diese kleinen Pickerl, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Und wenn Sie nicht wollen, dass eines dieser Pickerl einen kleinen Riss bekommt und ich annehmen muss, dass der Herr Chef-re-dak-teur im Hanser-Büro wertvolles Beweismaterial vernichten will und ich ihn daher in Beu-ge-haft nehmen muss, dann sollten Sie die Türe persönlich bewachen, bis die Kollegen der Spurensicherung da sind. Alles klar?“
Schwache Auftritte bedürfen eines starken Abganges. Das hat mich der Kurze gelehrt beim Rapport, wo wir ihm täglich Meldung machen müssen über die wichtigsten Vorkommnisse, dachte ich, und noch ehe Stocker antworten konnte, riss ich erst die innere, dann die äußere Polstertüre auf, tat einen Schritt ins Sekretariat und setzte nach, sodass es gut vernehmbar war in alle Richtungen und Zuhörer wie die Redaktionsbiene und zwei Kollegen, die um ihren Tisch herumstanden, den Eindruck gewinnen mussten, der Stocker habe mir soeben das Hausrecht abgetreten: „Also, darf ich bitten.“
Stocker schien erst wie gelähmt, doch dann geriet er in Bewegung. Mechanisch und steifbeinig. Er drückte sich an mir vorbei, schnauzte den Umstehenden ein unwirsches Gehen-Sie-an-die-Arbeit entgegen und geleitete mich zu Hansers Tür. „Ich weiß wirklich nicht, wo er steckt“, hauchte er eindringlich, während ich die Aufkleber, die ich stets bei mir trage, man weiß ja nie, aus jener Sakkotasche kramte, die nicht den russischen Reiseparadeisern Vorbehalten ist, und über Türblatt und Türstock spannte. „Sie müssen mir glauben.“
„War der Hanser in letzter Zeit verändert? Hat er irgendwelche Andeutungen gemacht?“
„Nicht, dass ich wüsste. Er war wie immer. Kampfeslustig und sarkastisch. Außer mit mir hat er in der Redaktion kaum mit jemandem mehr als zwei Worte gewechselt. Seine Eigenbrötlerei kommt bei den Kollegen nicht gut an, aber die Leser lieben ihn?
„Was ist mit dem Brief, wer hat ihn abgegeben?“ Ich fixierte den letzten Aufkleber in Bodennähe, schnellte aus gebückter Haltung empor, drehte mich Stocker zu und sah über seine Schulter hinweg zu beiden Seiten des langen Ganges einäugige Gesichtshälften blitzartig hinter Türstöcken verschwinden. „Ich weiß es nicht.“
„Ist der Eingang videoüberwacht?“
„Das schon. Aber wir zeichnen nichts auf. Wir sind ja nicht bei der Po . . .“ Stocker schluckte die fehlenden Silben im letzten Moment. „Der Portier schwört, niemanden gesehen zu haben. Wahrscheinlich hat er wieder in eines seiner Bücher gestarrt. Am Wochenende haben wir immer Studenten hier sitzen. Die kosten so gut wie nichts.“
„Und der Nachtportier?“
„Der ist um halb sieben gegangen. Ich werde die Sekretärin anweisen, Ihnen Namen und Nummer zukommen zu lassen.“ Na also, es geht ja, dachte ich, sagte aber nur in bester TV-Krimi-Manier: „Sorgen Sie dafür, dass die Videokamera ab sofort alles auf Band aufzeichnet. Und halten Sie sich bereit, wir werden Sie noch brauchen.“ Dann verließ ich die Wabe der Guten .
*
In der Küche, Sonntagmittag
Die Logik sagt mir, dass ich mir bei dem, das ich tue, keine Emotionen erlauben kann. Mein Standardsatz, ich weiß. Ich wiederhole ihn immer wieder, weil ich befürchte, dass ich diese Regel, die seit dem Augenblick der Erkenntnis am Beginn jeder Tätigkeit stehen muss, irgendwann einmal vielleicht doch nicht mehr ganz befolgen
Weitere Kostenlose Bücher