Zuckerguss (German Edition)
gewaltig.«
Ich öffne eine imaginäre Dose Mitleid. »Oooooooh.«
»Freches Biest!« Er lehnt sich zurück und schlägt die Füße übereinander. Erst da bemerke ich, dass David Turnschuhe, Sweatshirt und eine Jogginghose trägt.
»Warst du joggen?«
»Ja, ich musste den Kopf freikriegen.«
»Und, hat’s funktioniert?«, will ich wissen und lege mich neben David, den Blick zum Himmel gerichtet, wo sich gerade eine einzelne Wolke vor den fast ausgefüllten Mond schiebt.
»Nicht wirklich. Manche Dinge lassen sich nicht ohne weiteres aus dem Gedächtnis streichen.«
»Leider«, bestätige ich seufzend.
Es müsste einen Knopf zur Löschung geben. Ein Reset des Gehirns, dann würde ich nämlich diese ganze vermaledeite Woche in Wismar löschen, könnte in Hannover unbeschwert mein Leben weiterleben, und alles wäre gut. Wirklich?, bohrt die nervige Stimme in meinem Kopf nach. Würdest du das wirklich wollen? Was wäre mit der Erinnerung an David? Ich schüttele den Kopf und verscheuche diesen Gedanken so schnell, wie er gekommen ist.
»Was hat dir denn den Tag verhagelt? Wieder Streit mit deinem Vater gehabt?«, fragt David und streicht wie zufällig mit den Fingern über meinen nackten Oberarm.
»Auch«, gebe ich zu und ziehe eine Grimasse, »aber den Vogel hat zur Abwechslung meine Mutter abgeschossen, indem sie mich mal wieder vor vollendete Tatsachen gestellt hat, obwohl sie weiß, dass ich das nicht mag.«
»Schlimm?«
Ich schnaube. »Schlimmer. Sie hat mich mit einer neuerlichen Essenseinladung für den zukünftigen Schwiegersohn überrascht. Du kannst dir meine Begeisterung vorstellen.«
David prustet los.
Ich setze mich auf und verschränke wütend die Arme vor der Brust. »Findest du das lustig?«
»Irgendwie schon.« Ich funkele ihn an. Besänftigend fährt er mit der Hand über meinen Rücken. »Du musst deine Mutter verstehen, Miriam, sie sorgt sich um dich und um unsere Beziehung. Das zeigt doch nur, dass du ihr nicht egal bist.«
»Na, schönen Dank.« Darauf kann ich echt verzichten, schließlich bin ich keine drei mehr! Mittlerweile kann ich ganz gut auf mich aufpassen, auch wenn meine Eltern anderer Meinung sind. Aber wahrscheinlich bin ich für sie noch mit fünfzig das kleine Mädchen mit den Zöpfen, das sie bevormunden wollen.
»Ich wäre froh, wenn meine Familie solch einen Anteil an meinem Leben nehmen würde wie deine Mutter«, meint David mit vollkommen ruhiger Stimme, die meilenweit entfernt klingt.
Ich drehe mich neugierig zu ihm. Sein Blick ist unverändert zum Himmel gerichtet, er weicht mir aus.
»Verstehst du dich nicht mit deinen Eltern?«, erkundige ich mich so feinfühlig wie möglich.
»Meine Mutter ist vor sechs Jahren gestorben.«
»Oh, das tut mir leid.« Ohne groß darüber nachzudenken, ergreife ich Davids Hand und verschlinge seine Finger mit meinen.
»Seitdem ist mein Vater oft verbittert, und es ist nicht immer leicht, ihm alles recht zu machen. Schon gar nicht, wenn man wie ich eine andere Vorstellung vom Leben hat.«
»Kommt mir irgendwie bekannt vor.«
David stützt sich auf den Ellenbogen. »Weißt du, meine Mutter war Malerin, mein Vater ist hingegen der Zahlenmensch, für ihn muss hauptsächlich der Profit stimmen. Ich komme mehr nach meiner Mutter, die das Leben genoss und einfach tat, worauf sie Lust hatte. Das gefiel meinem Vater von Anfang an nicht. In seinen Augen bin ich der ewige Rebell, der nicht erwachsen wird.«
»Aber du bist deinen Weg gegangen.«
»Auf Dauer wäre das mit meinem Vater und mir nicht gutgegangen. Wir hätten uns nach dem Tod meiner Mutter die Köpfe eingeschlagen«, meint er, den Mund zu einem schiefen Lächeln verzogen, das nicht bis zu seinen Augen reicht. »Ich brauchte Abstand, musste den Kopf freikriegen. Die Zeit hat gezeigt, dass es das Beste für uns beide war.«
»Und du scheinst dein Glück hier gefunden zu haben. Beneidenswert.« Während ich immer noch wie ein Blatt im Wind herumtreibe.
David fasst unter mein Kinn und zwingt mich, ihm ins Gesicht zu sehen. »Du weißt selbst, dass du das auch haben kannst. Du musst nur dein Leben in die Hand nehmen und eine Entscheidung treffen. Der Rest ergibt sich von alleine.«
Ich lache freudlos. »Wenn das so leicht wäre.«
»Wollen wir schwimmen gehen?«
Mit großen Augen starre ich David an. »Schwimmen? Jetzt?«
Er zuckt mit den Achseln, als ob es das Normalste der Welt wäre, nachts in der Ostsee schwimmen zu gehen. Ohne meine Antwort abzuwarten, zieht David
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