Zuckerleben: Roman (German Edition)
brütende Hühnchen tage- und nächtelang in den unbeheizten vorkarpatischen Bahnhofshallen der Iwanofrankowsker Oblast ausharren, um doch irgendwann irgendwie einen Platz im Zug nach Polen zu ergattern.«
»Man kann sich doch die Fahrkarten im Voraus organisieren.«
»Im Voraus kann man bei uns keine internationalen Tickets buchen, zumindest nicht nach Polen. Aber das ist in unserem Fall auch alles egal, da wir sowieso mit dem Minibus fahren wollen.« Tutunaru nimmt einen weiteren Zug von seiner moldawischen Filterzigarette.
»Wichtig wäre das ›Tante-Agnieszka-ist-gestorben.-Komm-bitte-schnell-zum-Begräbnis!‹-Telegramm allerdings, um am Zoll vorbeizukommen, verstehst du? Wertgegenstände sind nämlich schwer über die Grenze zu bringen. Deswegen hätten wir den Schurken vom Zoll das Telegramm gezeigt und die Wertgegenstände als Geschenke für die tote Tante Agnieszka und die Verwandtschaft in Krakau, als Sachbeteiligung an den Begräbnisunkosten, deklariert.«
»Die Polen sind sehr gläubig, weißt. Sehr katholisch. Bei denen funktioniert die Masche mit dem Begräbnis ganz gut«, bemerkt Vadim der Maler und beißt in seinen Maiskolben hinein.
Tutunaru nickt.
»Dann wären wir also damit nach Polen gekommen, hätten das Zeug in Polen verkauft und in konvertible Valuta umgetauscht und hätten uns damit dann eine Italien-Reise gebucht, wären nach Italien gereist und wären dann in Italien geblieben. Das war unser Szenario. Allerdings haben wir jetzt blöderweise keine Bilder und keine Wertgegenstände mehr, die wir zu Geld machen könnten.«
»Und in Italien? Wie wär’s in Italien weitergegangen?«, will Nadja wissen.
Tutunaru wirft seine Kosmos ins Feuer.
»In Italien? Ganz einfach: Mithilfe des Geldes vom Verkauf der Wertgegenstände, die wir jetzt nicht mehr haben, hätten wir uns die erste Zeit über Wasser gehalten. Mit Vadims GroSoRe-Bildern, die wir reichen Italienern verkauft hätten, hätten wir uns die italienischen Papiere besorgt und unser Transportunternehmen für Personen- und Warenverkehr zwischen Italien und Moldawien auf die Beine gestellt. Im Westen kontrolliert nämlich das Kapital die Gesellschaft. Und wer kontrolliert das Kapital? Die Reichen. Sie kontrollieren die Wirtschaft, und die Wirtschaft lenkt die Politik. Das bedeutet also, dass es für einen gut vernetzten italienischen Reichen, der sich selbst respektiert, überhaupt kein Problem wäre, uns eine italienische Staatsbürgerschaft zu organisieren. Verstehst du?«
»Und wer hätte die Dienste unserer Speditionsfirma in Anspruch nehmen sollen, wenn es in Italien doch gar keine Moldawier gibt?«
»›Moldawien ist ein Land voll kluger Leute‹, sagt man. Richtig, oder?«
»Ja, und?«
»Na ja, wenn mindestens jeder vierte Moldawier klug ist, können wir davon ausgehen, dass in den nächsten Jahren mindestens eine Million Moldawier auswandern werden, um dem submoldawischen Lebensstandard in unserer idyllischen Weinrepublik zu entfliehen. Oder dem Bürgerkrieg mit dem separatistischen Transnistrien, der über kurz oder lang kommen wird. Und diese Leute. Diese Leute werden sich überlegen, wie sie sich ein besseren Leben organisieren können. Diese Leute werden deswegen über kurz oder lang nach Italien auswandern. Warum nach Italien? Weil Italien das Moldawier-affinste Land Westeuropas ist – die Sprache, die Mentalität, die Kultur, das Klima … Darum wären diese Leute, schätzungsweise ein Viertel der moldawischen Bevölkerung, unsere potenziellen Kunden. Und ich persönlich glaube, dass sie die Dienste unseres Transportunternehmens für Personen- und Warenverkehr zwischen Italien und Moldawien dankbar in Anspruch nehmen würden.« – Tutunaru hält kurz inne, denkt nach und verkündet alsdann mit Zuversicht, jedem der Anwesenden hintereinander nach der Manier von Tele-Guru Kaspirowskij aus der Winnitzer Psychiatrie tief in die Pupillen hineinstarrend: »Jetzt schaut doch nicht so traurig drein wie eine Schar enteigneter Bojarkinder: Geld gab es, Geld wird es geben, nur im Moment ist leider kein Geld da. Dafür –«
»Dafür ist Moldawien heute unabhängig geworden«, fällt Roma Flocosu Tutunaru ins Wort, ebenfalls bemüht, die Stimmung der am Italien-Projekt Beteiligten zu heben.
Der Ewig Hungrige Historiker erntet das eine oder andere Lächeln und grübelt eine Weile laut darüber nach, weswegen denn der Bulibascha von Otaci den Zuckerfabrikdirektor Hlebnik hat beseitigen lassen und ob die Tötung Hlebniks mit
Weitere Kostenlose Bücher