Zuckerleben: Roman (German Edition)
Badezimmertür stehen.
Sie schaut sich noch einmal das harmlos aussehende Küchenmesser an. Ein winziger Teil seiner Spitze ist abgebrochen; auf der Schneide ist ein kleiner Rostfleck zu sehen.
Die Hand der Italienischlehrerin zittert leicht.
Nadja schaut zu Mischa.
Und sieht, wie der seinen Halfter am Gürtel öffnet, seine silbrig glänzende Pistole hervorzieht und sie sich mit einem leisen, aber deutlichen »Lieber krepier ich, als weiter mit anzusehen, wie das Land vor die Hunde geht« an die Schläfe hält und die Waffe entsichert.
9.-Mai-Straße Nr. 26
Die Corbulaner 9.-Mai-Straße, die mehr eine unbefestigte, nicht-asphaltierte Piste ist, weist in ihrer Mitte eine Wölbung auf und läuft an ihren Seiten mit einem schmalen Rinnstein aus, hinter dem jeweils die Zäune der einstockwerkigen Einfamilienhäuser mit den dazugehörigen Gemüsegärten, in denen auch Birnen-, Apfel-, Nuss-, Kirsch- oder auch Pflaumenbäume zu sehen sind, ansetzen. Der Rinnstein ist an einigen Stellen mit Betonplatten überdeckt, damit die Autos in den Hof einkehren können und die Hausbewohner, wenn sie denn nicht motorisiert und zu Fuß unterwegs sind, deren gelegentliche Gäste und Besucher sowie das Hausvieh, wie Gänse oder Ziegen, nicht über den Rinnstein steigen oder springen müssen.
Doch jetzt sind so gut wie keine Corbulaner auf der Straße zu sehen, da es ja erst seit Kurzem wieder Strom gibt und die Moldawier emsig auf ihren Anwesen und in ihren sporadisch beleuchteten Einfamilienhäusern Tätigkeiten nachgehen, die nur unter Einbezug von Elektrizität möglich oder sinnvoll sind.
Tutunaru manövriert sein Minsk-Motorrad mit Seitenwagen durch die Corbulaner 9.-Mai-Straße, fährt langsam zwischen den Wasserpfützen der nicht asphaltierten Piste, um vielleicht eine Hausnummer lesen zu können, was im schummrigen Licht nicht gar so einfach zu bewerkstelligen ist. Langsam fährt er auch, um mit seiner Beifahrerkabine nicht in den Rinnstein abzurutschen und mit seinem Motorrad samt seiner wertvollen Ladung umzukippen.
Ein grüner 5 er-Lada mit getönten Scheiben kommt ihm entgegen, und der Dondușenier Spekulant muss sich kurz mit dem Fahrer einigen, wie sie am besten aneinander vorbeifahren sollen. Der Lada, aus dessen Kassettenrekorder Michail Krugs rauchige Stimme eine Ballade über sibirische Gastfreundschaft zum Besten gibt, stellt sich mit dem linken Hinterrad auf eine der kleinen Betonplatten, die den Rinnstein überbrücken, und lässt Tutunarus Minsk vorbei, wonach der Lada unverzüglich weiter Richtung Corbulaner Zentrum fährt. Tutunaru winkt dem Lada und setzt seine Expedition durch die Corbulaner 9.-Mai-Straße fort.
Kurze Zeit später erreicht Tutunaru eine Kurve, und gleich nach der Kurve muss er ein besonders großes, mit Regenwasser gefülltes Schlagloch umfahren. Danach schlägt ihm die ganze Kraft eines 2000-Watt-Scheinwerfers ins Gesicht, und ein Rottweiler bellt laut auf. Tutunaru bleibt stehen, steigt vom Motorrad ab, beschließt, sich vor dem grellen Licht in Sicherheit zu bringen, und nähert sich deswegen dem Bretterzaun mit dem Rottweiler an.
Auf dem rechteckigen Briefkasten mit dem Logo der sowjetischen Post ist ein Name ohne Vornamen und Patronym angebracht: CASAP .
»Casap«, wiederholt Tutunaru laut und betrachtet die Anfahrtsskizze zu Nadja Pilipciucs Haus, die ihm der Protodiakon Derimedont gegeben hat, holt aus seiner Beifahrerkabine ein Stück defizitärer Doktorenwurst und wirft es dem Rottweiler häppchenweise über den Zaun. Der Rottweiler beschnüffelt die Doktorenwurst skeptisch, probiert ein kleines Stück davon, bevor er den Rest verschlingt.
Es regt sich etwas hinter dem unruhigen Rottweiler.
»He, du da! Gib meinem Hund ja nichts zu fressen! Hast du gehört? Sonst brech ich dir das Gesicht! Faschist, bei Fuß! FASCHIST! Bei Fuß, hab ich gesagt! So, ist gut, ja, mein Kleiner. Komm her zu mir. Spuck’s aus!«
Mit einem Teller frisch gewaschener Weintrauben in seiner tätowierten Hand erscheint ein etwa 40-jähriger kleinwüchsiger, glatzköpfiger Bürger mit einer Narbe im Gesicht, die die Hälfte seiner linken Wange durchzieht und nach einem scharfen, kunstvoll gezogenen Bogen in seiner linken Augenbraue endet: Casap.
Casap trägt weiße Tennissocken, darüber heimische Ledersandalen, kurze blaue Shorts und ein kariertes, kurzärmeliges Hemd. Casap hat sich entschieden, sein Hemd nicht zuzuknöpfen, was bei dem beachtlichen Umfang seines Bauches wohl auch gar nicht
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