Zuckerleben: Roman (German Edition)
möglich gewesen wäre.
Unwillkürlich starrt Tutunaru über den Bretterzaun auf Casaps nackten Bauch, auf dem kein einziges Haar wächst.
»Tut mir leid, war aber nur Doktorenwurst. Sind Sie denn Casap ?«
»Wer will’s denn wissen?«
Casap spricht weiter zu seinem Rottweiler, der Pitirim unentwegt anknurrt:
»Böser Faschist! Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nichts fressen von fremden Leuten, hä? Aber bei der Doktorenwurst bist du schwach geworden, was, Faschist?«
»Ich suche hier eigentlich die Adresse: 9.-Mai-Straße 26. Die Nummern sind hier nicht zu sehen, es müsste aber eines von diesen Häusern hier sein. Wissen Sie vielleicht, wo –«
»Vergiften wollten sie den Faschist mal. Böse Menschen. Aus Dondușeni waren sie, die Arschlöcher, glaub ich. Seither muss man da sehr aufpassen, was der Faschist zu fressen kriegt. Du siehst aber wie ein guter Mensch aus, Schnauzbart«, fällt Casap Tutunaru ins Wort und sieht dabei nur den Rottweiler an. »Die Nummer 26 ist das weiße Haus, dort, wo der Suchscheinwerfer angegangen ist.«
Als sich der Dondușenier Schwarzmarktspekulant in die angedeutete Richtung umdreht, erklingt aus dem Inneren des Hauses mit der Nummer 26 eine dumpfe Explosion, gefolgt von dem Geräusch von Glas, das zerschellt.
»Was war das denn?«
Casap lächelt.
»Der Mischa wird wohl wieder in den Fernseher geschossen haben. Das macht er manchmal, um seine Nerven zu beruhigen.«
Casap macht eine kurze Pause und isst eine Weintraube.
»Was der schon an Fernsehern verschlissen hat, der Junge.«
»Wer ist dieser Mischa?«
Eine unangenehme Pause setzt ein.
Casaps Gesichtszüge erkalten. Casap mustert den Dondușenier Spekulanten, als würde ihm hier plötzlich etwas sehr spanisch vorkommen, dann entspannt Casap sein Gesicht zu einem Lächeln, das durch die lange dünne Narbe etwas Bedrohliches erhält, greift sich mit der rechten Hand an den Rücken, unter sein Hemd, wo er im Hosenbund seiner blauen Shorts die angenehme Kühle seiner Makarow 9 mm spürt, streichelt den Griff seiner geladenen Pistole zweimal, als würde er auf diese Weise mit der Waffe kommunizieren, zögert ein wenig, lässt wieder von der Pistole ab, tut so, als würde er sich am Rücken kratzen, bringt seine rechte Hand wieder zum Vorschein, wirft sich mit seinen tätowierten Fingern geübt eine Weintraube in den Mund und verschwindet wieder in seinem Garten, dicht gefolgt vom devoten Rottweiler Faschist, ohne etwas zu sagen.
10 Liter Samagon für Mischa
Stabswachtmeister Mischa sitzt benommen auf seinem Stuhl und wippt hin und her. Die militärischen Orden auf seiner Brust, die wie ein organischer Bestandteil des Soldaten wirken, klimpern, als würde man einen Weihnachtsbaum durchschütteln. Der Unteroffizier ist geistig abwesend, mit glasigen Augen visiert er die kaputte Bildröhre des Wasserfall-2-Fernsehers mit dem Bügeleisen darin, genau an der Stelle, wo Gensek Gorbatschow zuvor seine Ansprache gehalten hat.
Mischa murmelt etwas Unverständliches vor sich hin: Dann ruft er klar und deutlich einen Namen, um gleich danach wieder zu verstummen. Schließlich gibt er einem imaginären Gesprächspartner, der sich wohl auch irgendwo in der Bildröhre des Wasserfall-2-Fernsehers befinden muss, irgendwelche militärischen Koordinaten durch, nur um wieder in sein unverständliches Gemurmel zu verfallen.
Dann verlangt Mischa nach Samagon.
Nadja steht daneben, die silbrige Waffe des sowjetischen Unteroffiziers in ihrer Hand. Sie weiß nicht, was sie machen soll.
»Ein Idiot bist du, Mischa. Versprich mir, dass du das nie wieder machst«, sagt Nadja, eher leise, sichert die Waffe und hält sie Mischa dem Stabswachtmeister entgegen.
Mischa wendet sich der Italienischlehrerin zu, lächelt sie an, nickt, küsst Nadja Pilipciucs Hände und nimmt die Pistole an sich, zielt mit ihr auf den Fernsehapparat, entsichert die Waffe und spannt seinen Zeigefinger um den Abzug.
»Peng-peng!«, ruft der Stabswachtmeister, grinst lausbübisch, steckt sich die Pistole in den Halfter und steht auf.
»Nadjuscha, ich saus mal zum Brunnen, Wasser holen. Lass uns heute Nacht ein Lagerfeuer machen!«
Mit diesen Worten verlässt der Stabswachtmeister Mischa den Raum.
Nadja atmet tief durch, den Blick auf das gerahmte Foto des kleinen Jungen mit dem Spielzeugauto, das immer noch auf dem zerstörten Wasserfall-2-Fernseher steht, gerichtet, schüttelt ihren Kopf und greift nach dem Hörer des cremefarbenen Scheibentelefons,
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