Zuckermacher 01 - Die Schwester der Zuckermacherin
die Luft und sah sich die Schwellung an, die, wie mir schien, größer geworden war, seit wir aus dem Haus gegangen waren. Er drückte mit den Fingern darauf, und Sarah zuckte vor Schmerz zusammen, dann ließ er sie den Mund öffnen und untersuchte sie mit einem kleinen Holzstab.
»Ist es die Pest?«, fragte ich angsterfüllt und betete zu Gott, dass er sie verschone.
Der Doktor zog seinen geschnäbelten Kopfputz aus und setzte seine Brille auf, dann guckte er wieder in Sarahs Mund. Er lächelte - ein Lächeln, das unser Herz erwärmte. »Nein«, sagte er, »es ist ein Zahn im Unterkiefer. Darunter ist ein Abszess voller Eiter, und darum ist das Zahnfleisch geschwollen.«
Sarahs Augen füllten sich mit Tränen, und bei diesem Anblick stiegen mir ebenfalls die Tränen in die Augen.
»Seid Ihr sicher?«, fragte sie ihn.
»Vollkommen!«, antwortete der Doktor, »und sehr froh darüber.«
Er griff nach einem Fläschchen hinter sich. »Ich werde den Abszess mit ein wenig Nelkenöl einreiben, und Tom wird Euch eine Steinbrechwurzel geben, die Ihr kauen könnt, wenn der Schmerz unerträglich wird. Aber Ihr werdet Euch den Zahn ziehen lassen müssen.«
»Könnt Ihr das nicht tun?«, fragte ich den Doktor.
Er schüttelte den Kopf. »Aber beim Roten Bullen, neben dem Kaffeegeschäft in Covent Garden, gibt es einen Barbier, der Zähne zieht. Er macht seine Sache ganz gut«, sagte er und klopfte Sarah unbeholfen auf die Schulter. »Ich bin froh, dass ich eine so gute Nachricht für Euch habe.«
»Wir... wir müssen noch bezahlen«, stammelte sie.
Wieder schüttelte er den Kopf. »Das ist nicht nötig.
Stattdessen könnt Ihr Tom und mir einige Eurer ausgezeichneten neuen Leckereien gegen die Pest geben.«
Tom hatte jedes einzelne Wort gehört und grinste bis über beide Ohren, als wir wieder hinter dem Wandschirm hervorkamen. Er gab uns ein Stück getrocknete Steinbrechwurzel und erklärte uns noch einmal genau, wo wir den Mann finden würden, der Zähne zog. Dann öffnete er die Tür, damit wir hinausgehen und der nächste arme Patient hineinkommen konnte.
Auf dem Nachhauseweg war ich so erleichtert und glücklich, dass ich am liebsten getanzt und laut gesungen hätte. Gedankenlos stimmte ich ein Lied an, das ich die Balladensänger hatte singen hören, hakte meine Schwester unter und wiegte mich mit ihr. Meine arme Schwester hatte jedoch immer noch Schmerzen und sagte ganz ruhig: »Die Pest ist noch da, Hannah. Es ist noch nicht vorbei. Wir müssen noch auf der Hut sein.«
Bei diesen Worten hörte ich auf zu summen und mich zu wiegen, denn ich vernahm wieder - wie man es immer vernehmen konnte - das Geläut vieler verschiedener Kirchenglocken, die weitere Todesfälle verkündeten.
Sarah, die sich sehr vor dem Zahnziehen fürchtete, wartete ab, ob die Medikamente, die der Doktor ihr verschrieben hatte, wirkten. Sie halfen zwar, jedoch nur wenig, also gingen wir um die Mittagszeit nach Covent Garden und fanden den Barbier in seinem
Stand neben dem Roten Bullen vor. Wir brauchten nicht lange nach ihm zu suchen, denn der Kerl - ein Mann, so groß und verschwitzt wie ein Ochse — wedelte mit einem Furcht erregenden Instrument herum und schrie aus voller Kehle, dass er Geschwüre herausschneiden, morsche Zähne ziehen und Furunkel im Mund aufschneiden könne.
Sarah wich zurück, als sie ihn sah. »Was für ein schmutziger, ungehobelter Kerl!«, flüsterte sie.
Doch ich erinnerte sie daran, dass der Doktor ihn empfohlen hatte, nahm sie an der Hand und führte sie zu ihm hin. »Und in einer Minute ist alles vorbei und du kannst es getrost vergessen«, sagte ich.
Der Mann setzte sie auf einen kleinen Schemel, beugte ihren Kopf zurück und schob ihr die Finger in den Mund, so dass ihr nichts anderes übrig blieb, als ihn weit zu öffnen. Er betrachtete ihr Zahnfleisch, dann löste er eine Art Kneifzange von seinem Gürtel und stieß sie ihr in den Mund, so dass sich ihr Gesicht seltsam verzog. Er legte die Kneifzange um den Zahn und zog daran. Sarah gab einen unterdrückten Schrei von sich und umklammerte meine Hand so fest, dass sie mir wahrlich beinahe die Finger gebrochen hätte. Dann hielt der Mann plötzlich den Zahn hoch und ernannte sich selbst zum schnellsten Zahnzieher der Stadt.
Sarah war blass und zitterte am ganzen Körper, also bezahlte ich ihn, und wir gingen wieder nach Hause. Unterwegs hielten wir nur an, um einen Auf-guss aus Brombeerblüten und -blättern zu kaufen, der die Wundheilung unterstützen
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