Zuckermacher 01 - Die Schwester der Zuckermacherin
hoch lag. Als ich das sah, überlief mich ein Schaudern, weil ich mir unweigerlich vorstellte, wie sie alle in ihren Leichentüchern - nur wenige bekamen noch einen anständigen Sarg - in der kalten Erde lagen: Jung und Alt, Frauen und Männer wahllos übereinander gestapelt, ohne jede Achtung und Zeremonie.
In der Kirche angekommen, hatten wir festgestellt, dass sich unser Gemeindepfarrer aufs Land in Sicherheit gebracht hatte und jetzt ein anderer an seiner Stelle stand. Seine beinahe zweistündige Predigt war heftig und erschreckend. Er sagte, die Pest sei eine Strafe für das Verhalten der Menschen. Er erzählte von dem furchtbaren Tod und dem Fegefeuer, die uns erwarteten, wenn wir nicht aufrichtige Reue empfanden über unsere Gotteslästerung und unsere Sünden. Seine Worte erschreckten mich so sehr, dass ich mich an Sarahs Hand klammerte, aber sie flüsterte mir zu, dass er nicht uns meinen könne, weil es unmöglich sei, dass ein gerechter Gott irgendeine der Sünden, die wir begangen hatten, für schwer genug befand, um uns in die Hölle zu schicken.
Auf dem Heimweg begegnete uns etwas sehr Trauriges. Wir sahen eine junge Frau mit einer kleinen Schachtel in den Armen, die sich zum Kirchhof von St. Olave schleppte und dabei laut weinte und schrie: »Oh, mein Kind ... mein allerliebstes Kind!«
Sarah flüsterte mir zu, dass sie wahrscheinlich ihr
Kind selbst zum Friedhof bringen wolle, damit es ein anständiges Begräbnis bekam. »Sie wird nämlich bestimmt in ihr Haus eingesperrt, sobald die Behörden hören, dass das Kind gestorben ist«, fügte sie hinzu.
Wir sahen noch etwas anderes Seltsames: einen armen Irren im Delirium, nur mit einem Lendenschurz bedeckt, der sich auf die nackte Brust schlug und Gott anflehte, er möge ihn von seinem Erdenleben befreien, weil seine ganze Familie an der Pest gestorben sei und er nicht mehr leben wolle. Sarah warf ihm eine Münze zu, und wir hasteten ohne ein Wort weiter.
Als wir zu Hause ankamen, stellte sich heraus, dass ein Brief zurückgekommen war, den wir unserer Familie hatten schicken wollen, damit sie wusste, dass es uns gut ging. Einer der Männer vom Fuhrbetrieb erklärte uns, die Behörden in Chertsey hätten den Empfang des Briefes verweigert, obwohl er über einen Topf mit kochendem Essig gehalten worden war, um die Seuche abzutöten. Er sagte, dass viele Städte keine Briefe aus London mehr annahmen, es sei denn, es waren offizielle Briefe oder es ging um Leben und Tod.
»Glaubst du, dass sie in Chertsey von der Pest in London gehört haben?«, fragte ich Sarah.
»Oh ja«, sagte sie und nickte, »und Mutter wird sich gewiss Sorgen machen. Aber sie werden sich bestimmt denken, dass keine Nachricht eine gute Nachricht ist.«
Wir zogen uns um, hängten unsere Sonntagskleider weg und aßen, weil wir beide sehr hungrig waren - bisher hatten wir uns an den Fasttag gehalten -, ein paar von unseren Leckereien. Sarah sagte, dass man es nicht als echtes Essen ansehen könne, wenn wir einfach nur unseren Vorrat probierten. Außerdem waren wir in letzter Zeit auf ziemlich vielen kandierten Veilchen und Rosen sitzen geblieben, weil unser Geschäft so schlecht lief.
»Ehrlich gesagt, mache ich mir Sorgen«, sagte Sarah. »Wir nehmen im Moment nur halb so viel ein wie sonst.«
Ich war etwas abgelenkt, denn ich hatte meine Veilchen aufgegessen und betrachtete mich gerade in einem kleinen Spiegel, den ich einem Hausierer abgekauft hatte. Es schien mir, dass sich mein Haar, trotz all meiner Bemühungen, noch weniger bändigen ließ und lockiger war als je zuvor.
»Hannah! Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Sarah. »Wenn die vornehmen Leute weiterhin nach und nach die Stadt verlassen, furchte ich, dass wir bald nicht mehr genug verdienen werden, um unser tägliches Brot zu kaufen.«
Ich legte den Spiegel weg und sagte: »Es wird doch sowieso kein Essen mehr da sein, das wir kaufen könnten, oder? Die Hälfte aller Geschäfte ist bereits geschlossen. Wenn es so weitergeht, sagt Mr. Newbery, werden wir alle verhungern!«
Sarah schüttelte den Kopf. »Das werden wir nicht«, sagte sie, »ich habe nämlich heute gehört, wo wir Vorräte kaufen können.«
»Von wem hast du es denn gehört?«
»Als wir vor der Kirche gewartet haben und du die Gräber angestarrt hast und dir Gott weiß was für schreckliche Dinge ausgemalt hast, habe ich mich mit einem Mann unterhalten, der in der Nähe von Lincolns Inn wohnt. Wir haben davon gesprochen, wie schwierig es ist,
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