Zügel der Leidenschaft
nicht einfach besuchen? Ich brächte jede Entschuldigung vor, ihn einfach nur zu sehen.«
»Er wäre für uns nicht zu Hause, selbst wenn wir vor der Tür ständen. Laß mich einen Moment nachdenken.«
»Ich gönne ihn ihr nicht, Olivia!« heulte Grace. »Wenn sich ein Mann erstmal in Angela verliebt, schaut er nie mehr eine andere an.«
»Ist Brook in London?«
»Sidney hat ihn gestern erwähnt. Er ist dagewesen. sagte etwas über einen seiner Wutanfälle im Club über ein Essen – oder ging es um ein Kartenspiel? Ich habe nicht hingehört. Sidney ist so langweilig.«
»War nicht die alte Gräfin de Grae neulich mit ihren beiden häßlichen Töchtern bei Agnes zum Dinner?« überlegte Olivia. »Wenn die über Angelas neuen Beau Bescheid wüßten, könnten sie es Brook erzählen. Du weißt, seit Joe Manton ist de Grae sehr merkwürdig ... oder vielleicht war er das auch immer schon«, schloß sie. »Jedenfalls bezweifle ich, ob Kit Interesse an einem ernsten Zusammenstoß mit einem aufgebrachten Ehemann hat.«
»Du bist so clever, Olivia«, rief Grace begeistert. »Dann muß der arme Kit getröstet werden, und wir bieten ihm unsere Schulter zum Ausweinen an. Überkommt dich auch beim bloßen Gedanken an ihn ein Schauder des Entzückens?«
Was Olivia erlebte, wenn sie an Kit Braddock dachte, konnte nur von einem Mann oder durch Masturbation zum Verschwinden gebracht werden; über mädchenhafte Entzückensschauder war sie schon lange hinaus. Seit Schloß Morton hatte sie oft an Kit gedacht; besonders sein Hang zu wildem Sex bildete für sie eine berauschende Erinnerung. »Er hat einen ganz besonderen Charme«, sagte sie leise. »Daher kleide ich mich jetzt an. Warum kommst du nicht vorbei und holst mich ab, und dann besuchen wir die ach so anständigen de Grae-Damen?«
Die alte Gräfin de Grae war sehr freundlich, als Olivia und Grace mit dem Vorwand bei ihr erschienen, für einen wohltätigen Zweck zu sammeln. Ihre beiden Töchter zeigten sich weniger beeindruckt, denn sie hatten weder das gute Aussehen noch den Charme ihrer Mutter und schlugen eher nach dem Vater.
Zuerst unterhielten sich die Damen über das Wetter, und sie stimmten darin überein, daß dieser Herbst ungewöhnlich milde sei. Die Gräfin schenkte den Tee mit der Grazie und Umsicht einer Frau ein, die noch ein anderes Zeitalter gekannt hatte, während die Töchter einander fragende Blicke zuwarfen. Sie waren mißtrauisch gegenüber allem, was die Herzogin von Lexford vertrat. Und ein wohltätiger Zweck paßte so wenig zu ihr, daß sich die beiden fragten, was der wahre Anlaß für ihren Besuch sei.
Als nächstes diskutierte man die Gemälde, die gerade in der Königlichen Akademie ausgestellt wurden, und alle bedauerten den Tod von Lord Leighton vor kurzem. Als in der Unterhaltung endlich der wohltätige Zweck erwähnt wurde, ging es um Gelder für einen Flügel des Krankenhauses, und genau wie die Töchter vermutet hatten, kannte Olivia sich in den Einzelheiten nicht allzugut aus. Die Gräfin versprach jedoch, etwas für das Projekt zu spenden, und man lächelte sich freundlich an.
»Haben Sie Angela in letzter Zeit gesehen?« fragte Olivia nun beiläufig und nahm mit herzlichem Lächeln eine zweite Tasse Tee an.
»Seit Mamans Geburtstag im Juli nicht mehr«, antwortete Gwendolyn, die älteste. »Sie hat auf Easton mit den neuen Gebäuden und der Schule sehr viel zu tun.« In ihrer Stimme schwang kaum Anerkennung mit.
»Sie und Brook sind ja kaum noch höflich zueinander«, warf die jüngere Schwester ein. Ihre Stimme klang scharf und bitter. »Ihr letzter Besuch auf Schloß Grae hat alles durcheinandergebracht. Sie hatte sogar ihren Anwalt dabei, als bräuchte sie einen Rechtsvertreter, um das Haus ihres Gatten zu betreten.«
»Nun reicht es, Mädels«, mahnte die Mutter ihre Töchter, als handele es sich um junge Dinger und nicht um Damen in den Vierzigern, die schon einige Kinder großgezogen hatten. »Angela und Brook sind sich einig, daß sie nicht zueinander passen, und das ist nicht unsere Angelegenheit.« Der Gräfin waren die Untaten ihres Sohnes bewußt, und sie hatte immer Mitgefühl mit ihrer Schwiegertochter gezeigt, obwohl sie ihr kaum mehr bieten konnte als stillschweigende Unterstützung. Der verstorbene Graf hatte ebenfalls ein sehr unberechenbares Temperament gehabt.
»Ich habe Angela gestern abend bei Kettners gesehen«, rief Grace nun, die sich nicht länger beherrschen konnte.
»Wie schön. Ich habe gehört, sie
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