Zuflucht im Teehaus
»Vielleicht sollte ich Sie warnen. Ich bin bis jetzt nur ein einziges Mal gejoggt. Sonderlich gut ist das nicht gewesen; hinterher hatte ich einen Mordsmuskelkater.«
»Ach?« Akemi veränderte ihre Position. »Dann legen Sie sich mal auf den Boden. Wir machen zuerst zehn Minuten Dehnübungen, und hinterher geht’s los.«
Der Pfad begann gerade und breit: genau das richtige für das Sprinttraining, mit dem ich, so Akemi, ein paar Monate später beginnen würde. Nach ungefähr fünfhundert Metern verengte sich der Pfad und schlängelte sich durch Zypressen- und Zedernwälder. Dort konnte man fast die Hitze Tokios vergessen. Ich hatte erwartet, daß Akemi sofort lossprinten würde, doch sie lief ein paar Minuten neben mir her und sagte dann, ich solle langsamer werden.
»Sie laufen nicht gleichmäßig. Sie beschleunigen und verlangsamen zu oft. Wenn Sie mit dem Auto unterwegs wären, würde die Polizei Sie aufhalten.«
Ich hatte eigentlich vorgehabt, mir eine Gehpause zu gönnen, verlangsamte aber artig und paßte mich Akemis bedächtigem, gleichmäßigem Rhythmus an. Nach ein paar Minuten konnte ich wieder so gut atmen, daß ich in der Lage war, mich zu unterhalten.
»Sind Sie sich sicher, daß das, was wir hier machen, wirklich Joggen ist?«
»Sie sind zu ehrgeizig.« Akemi kicherte.
»Sie etwa nicht?« wehrte ich mich.
»Beim Laufen geht es um den Kampf gegen sich selbst. Wenn Sie sich zu viele Gedanken darüber machen, ob Sie eine gute Figur machen, oder in einer Geschwindigkeit laufen, die für Sie nicht richtig ist, bekommen Sie nie das nötige Selbstvertrauen.«
»Mein Problem ist eher, daß ich zu viel Selbstvertrauen habe«, keuchte ich, während wir weiterliefen. »Zum Beispiel war ich mir meiner Sache bei der tansu zu sicher. Ich habe mir nicht die Zeit gelassen, sie genau anzusehen.«
»Ich habe in der Zeitung gelesen, daß der Mann von Hita Fine Arts gestorben ist. Schon merkwürdig, die ganze Geschichte.«
»Ich wollte seinen Tod nicht. Ich wollte nur mein Geld zurück. Er war ein Betrüger und hat bei einem Kommissionsverkauf eins Komma drei Millionen Yen für sich behalten …«
»Woher wissen Sie das? Das stand nicht in der Zeitung.«
»Ich habe die Familie besucht, die ihm die Kommode verkauft hat.« Allmählich gewöhnte ich mich daran, beim Laufen zu reden.
»Wirklich? Dann sind die Leute sicher ziemlich wütend.«
»Ja, aber wir können nichts dagegen tun. Ich bin noch einmal zu Hita Fine Arts gegangen, doch der Geschäftsführer hat mir erklärt, er sei nicht verantwortlich für Sakais Geschäfte.« Ich wollte nicht mehr weiter über dieses Thema sprechen, also fragte ich: »Sind wir hier sicher vor Ihrer Mutter? Geht sie nicht manchmal hier spazieren?«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß meine Mutter heute nicht zu Hause ist. Aber Sie bräuchten sich nicht mal dann Gedanken machen, wenn Sie ganz allein hier laufen wollen. Früher hat meine Mutter das Teehaus hier am Weg benutzt, aber seit das neue Haus mit dem Teeraum steht, kommt sie nicht mehr her.«
»Das Teehaus sieht wirklich alt aus«, sagte ich, froh über eine Ausrede, noch langsamer zu werden, als wir an einem Gebäude vorbeikamen, das kaum größer war als ein Puppenhaus. Ein paar Dachschindeln hingen schief, und die Schiebetür war defekt, aber das Häuschen hatte ein hübsches rundes Fenster, durch das man wahrscheinlich wunderbar den Mond betrachten konnte.
»Achten Sie auf Ihre Geschwindigkeit und freuen Sie sich über Ihren Erfolg. In der letzten Runde können Sie gehen und hier Ihre Dehnübungen machen«, sagte Akemi.
Wir brachten noch eine Runde hinter uns, bevor ich gehen durfte. Dann beschleunigte Akemi und verschwand. Ich war erst ein paar Minuten gegangen, als sie mich schon wieder einholte.
Die Schiebetür an dem Teehäuschen war durch die Feuchtigkeit völlig verzogen; ich mußte ganz schön drücken, um in den kleinen, viereckigen Raum mit den tatami-Matten zu kommen. Entsprechend dem Zen-Gedanken befand sich lediglich eine Truhe für die Teeschalen darin. Der modrige Geruch verriet mir, daß Feuchtigkeit und Insekten den Matten sowie den wenigen zabuton – Sitzkissen – in der Ecke wahrscheinlich übel zugesetzt hatten.
»Sie haben Ihre Dehnübungen vergessen!« rief Akemi, als sie wieder vorbeirannte. Ich ging nach draußen und befolgte ihren Rat. Doch wonach ich mich eigentlich sehnte, war Wasser. Gleich in der Nähe plätscherte ein Bächlein, aber ich hatte kein Vertrauen in seine
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