Zuflucht im Teehaus
mir hier gefällt!«
»Vielleicht könntest du dir eine Arbeit suchen.« Seine englische Aussprache war so schlecht, daß er keine Konversationskurse geben konnte, und kellnern konnte er auch nicht, weil er nicht genug Japanisch sprach. Aber er sah gar nicht so schlecht aus. Plötzlich hatte ich einen Geistesblitz. »Du könntest dir als Model Geld verdienen! Ich kenne jemanden bei einer guten Agentur, und ich wette, daß Mr. Ota dir bei der Beschaffung einer Arbeitserlaubnis behilflich sein kann.«
»Ich bin kaum der Typ für schnieke Mode«, kicherte Angus.
»Mach dir mal keine Gedanken über Arbeit für ihn, Rei«, sagte Hugh in ungewohnt scharfem Tonfall. »Wie alle Männer wird Angus sich den Rest seines Lebens damit auseinandersetzen müssen, wie er Geld verdienen kann. Aber vorerst kümmere ich mich darum, daß es ihm an nichts fehlt.«
Wie alle Männer .War Hughs Äußerung allgemein sexistisch gewesen, oder hatte er sie als Angriff gegen mich persönlich gemeint? Obwohl ich selbständig war, bezahlte er die meisten Rechnungen, die in unserem gemeinsamen Haushalt anfielen. Ich war wütend und schämte mich und versuchte die Autotür in dem Augenblick zu öffnen, in dem Hugh die Handbremse zog.
»Augenblick«, sagte Hugh und löste die Kindersicherung.
»Na wunderbar«, sagte Angus. »Ihr zwei könnt gern die ganze Nacht eure Spielchen spielen, aber ich will hier raus, ja?«
»Rei, mir ist plötzlich was klargeworden!« Hugh packte mich an den Schultern und küßte mich. Das hatte ich am allerwenigsten erwartet.
»Wenn ihr jetzt zu schmusen anfangt, verschwinde ich auf der Stelle«, sagte Angus und sprang aus dem Wagen. Ich sah ihm nach, wie er zu dem Gebäude ging und die Tür mit dem Schlüssel öffnete, den ich ihm gegeben hatte. Jetzt waren wir allein.
»Rei, begreifst du denn nicht? Genau das könnte in Ueno Park passiert sein. Der junge Elvis – ich meine Jun Kuroi – hat die Zentralverriegelung geschlossen, was für ihn bedeutete, daß Sakai nicht aus dem Wagen konnte. Aber als Sakai allein im Auto war, hat er rausgefunden, wie die Sache funktioniert. Er mußte nur auf diesen Knopf auf der Fahrerseite drücken, um die Verriegelung zu lösen.«
»Deiner Meinung nach hat Nao Sakai also den Killer selbst in den Wagen gelassen?«
»Möglicherweise. Das wirft doch ein völlig neues Licht auf die Angelegenheit, findest du nicht auch? Ich rufe gleich morgen Mr. Ota an.«
»Warum machst du dir darüber Gedanken?« fragte ich. »Vor zwei Tagen hast du Jun doch noch für einen eiskalten Killer gehalten.«
»Das habe ich nicht gesagt. Außerdem habe ich die Artikel über ihn in den Zeitungen gelesen. Offensichtlich ist er gerade mal zwanzig, also ungefähr so alt wie Angus. Vermutlich sehe ich ihn jetzt als so etwas wie einen kleinen Bruder.« Hugh seufzte. »Aber da du selbst keine Geschwister hast, verstehst du das wahrscheinlich nicht. Außerdem wollte ich dich noch bitten, meinen Bruder nicht immer erziehen zu wollen.«
Ich war froh, daß Hugh nun Mr. Ota drängen würde, Jun beizustehen, aber es verletzte mich auch, daß er der Meinung war, ich hätte Angus bevormundet. Während ich versuchte einzuschlafen, dachte ich darüber nach, wie ich die Situation besser hätte meistern können. Viel Schlaf bekam ich so nicht. So gegen halb sechs sah ich, wie der Himmel draußen allmählich heller wurde. Ich stellte mir die kühle Morgenluft auf meiner Haut vor. Plötzlich hielt mich nichts mehr im Bett.
Ich zog rasch die Shorts an, die ich am Vorabend mit der Hand gewaschen hatte, und dazu ein frisches Unterhemd aus Hughs Schublade. Im Flur schlüpfte ich in meine Turnschuhe und nahm meinen Sony-Walkman vom Beistelltischchen. Meine Kassette mit Stücken von Echo and the Bunnymen war durch eine von Nine Inch Nails ausgetauscht worden. Ich hatte keine Lust, nach meiner eigenen zu suchen. Sobald ich den Walkman eingeschaltet hatte, merkte ich, daß die düsteren Synthesizerklänge genau meiner Stimmung entsprachen.
Die Sonne ging auf über Roppongi – zum Glück für mich, denn auf dem Gehsteig lagen Bierdosen, zerknüllte Handzettel sowie leere Essensverpackungen, die Überreste von Freitag nacht. Je länger ich in dem Viertel lebte, desto weniger gefiel mir sein Ruf als Zentrum des Tokioer Nachtlebens. Als Hugh die Wohnung damals gemietet hatte, waren dort vor allen Dingen teure internationale Restaurants und Discos gewesen, doch mittlerweile befand sich an jeder zweiten Straßenecke ein
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