Zug um Zug
gibt es nicht in der chinesischen Geschichte.
Steinbrück: Ich gebe zu, sie haben nicht diese imperialistisch-ausgreifende Tradition wie viele europäische Länder in der Geschichte der letzten Jahrhunderte. Eher wirkt im nationalen Bewusstsein der Chinesen das 19. Jahrhundert nach, in dem die Fremdherrschaft eine große Rolle spielte. Das ist bis heute prägend, nach dem Motto: Das lassen wir nie wieder zu. Und deshalb hat auch das Bild des »One China« in ihrer Politik eine solche Bedeutung. Ich habe dennoch den Eindruck, dass mit abnehmender Bindekraft der kommunistischen Ideologie ein neuer Nationalismus quasi als Ersatzideologie sich breitmachen könnte. Der könnte sich eines Tages auch expansiv entladen. Bisher gibt die chinesische Außenpolitik keinen Anlass, dass sich die Nachbarländer ernsthaft beunruhigen müssten, aber als potenzielle Bedrohung wird die neue Stärke Chinas von den Nachbarländern durchaus wahrgenommen. Allerdings kann niemand übersehen, dass es auch eine ganze Reihe limitierender Faktoren für den weiteren Aufstieg Chinas gibt. Es gibt Probleme mit der Demographie, Agglomerationsprobleme, eine enorme Wanderungsbewegung innerhalb des Landes, zunehmende regionale Probleme, wachsende Einkommensdisparitäten und nach wie vor eine Vielzahl maroder Staatsunternehmen.
Schmidt: Das stimmt. Die inneren Probleme Chinas sind enorm. Und natürlich kann niemand von uns ein Unglück ausschließen. Ein gewaltiges Konfliktpotenzial liegt zum Beispiel in dem ungeheuren Unterschied im Lebensstandard zwischen den Küstenprovinzen und Zentralchina, ganz zu schweigen von Tibet, ganz zu schweigen von Xinjiang.
Ich möchte aber auf etwas anderes eingehen. Sie haben quasi im Vorbeigehen erwähnt, dass die kommunistische Ideologie in Schwierigkeiten gerät und dass sie weitgehend ersetzt wird durch einen neuen Nationalismus. Erstens würde ich lieber von einer Propagierung des Nationalstolzes sprechen, die durchaus auf Widerhall bei der Masse der Chinesen trifft. Zweitens würde ich aber noch ein Stück weiter gehen und sagen: Eines der großen innenpolitischen Probleme Chinas ist, dass die kommunistische Ideologie immer weniger brauchbar ist und dass es bisher keinen wirklichen Ersatz gibt, der die Lücke füllt. Deswegen der Rückgriff zum Beispiel auf Konfuzius. Heute vor vierzig Jahren war Konfuzius Anathema; er durfte nicht einmal erwähnt werden, und alles, was an ihn erinnerte, wurde in der sogenannten Großen Proletarischen Kulturrevolution zerstört. Dann kam Deng Xiaoping, und im Laufe der Jahre, zunächst leise, dann lauter und inzwischen offiziell, wurde Konfuzius heiliggesprochen.
Steinbrück: Die Renaissance des Konfuzianismus wird von vielen Jüngeren bezweifelt. Viele sehen eher ein großes Wertevakuum – keine Rückkehr zum Konfuzianismus, sondern ein Versinken im Materialismus. Daneben blüht der Nationalismus, und zwar ein ziemlich primitiver Nationalismus, den man vor allen Dingen in der Armee spürt.
Schmidt: Ich habe in China mehrfach mit jüngeren Intellektuellen über die Zukunft des Konfuzianismus gesprochen. Ich halte es für wahrscheinlich, dass das Vakuum, von dem Sie sprechen, enden wird in einer zwar weitgreifenden Anpassung des Konfuzianismus an die heutigen Gegebenheiten und Notwendigkeiten – aber es wird eben doch im Kern Konfuzianismus sein. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Deng Xiaoping, das war im Jahre 1984. Wir kannten uns schon zehn Jahre und hatten schon viele Gespräche miteinander geführt. Es war ein Privatgespräch, und ich konnte es mir leisten, ihn ein bisschen zu piksen. Ich sagte also zu Deng: »Eigentlich seid ihr chinesischen Kommunisten ganz unehrliche Menschen. Ihr nennt euch Kommunisten, aber in Wirklichkeit seid ihr doch Konfuzianer.« Er war ein bisschen verärgert, hat einen Augenblick überlegt, und dann kam er mit einer zweisilbigen Antwort: »So what?« Das heißt, er gab mir zu verstehen: Sie haben zwar recht, aber was haben Sie dagegen?
Was den angeblich drohenden Nationalismus der Chinesen angeht, würde ich mich konzentrieren auf das deutsche Interesse. Vom deutschen Standpunkt aus muss uns das alles gar nicht beunruhigen. Vom amerikanischen Standpunkt aus ist die Entwicklung in China geeignet, die Leute zu beunruhigen. Aber es muss weder die Deutschen beunruhigen noch die Franzosen, noch die Polen.
Steinbrück: Na ja, die Dominanz Chinas könnte die Balance innerhalb Asiens gefährden, und dann wird die
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