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Zug um Zug

Zug um Zug

Titel: Zug um Zug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt / Peer Steinbrück
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Aufstandsbewegung über alle nationalen Unterschiede hinweg über mindestens sechs, wenn nicht sieben Staaten des Maghreb und des Maschrek zu verbreiten. Die mussten eben keine Boten aus Tunis nach Bengasi oder nach Rabat oder nach Kairo schicken, sondern organisierten sich über Facebook und Twitter.
    Steinbrück:   Das führt zurück zu der Frage, ob das Internet nicht auch die größte Bedrohung für China und ähnlich verfasste Gesellschaften ist. Wie lange können autokratische Systeme den Zugang zum Internet kontrollieren? Das, was sich im Netz an kommunikativen Möglichkeiten eröffnet, dürfte inzwischen die größte Gefährdung geschlossener Gesellschaften sein. Und auch deshalb scheint mir das Schicksal Europas noch nicht entschieden. Natürlich sehe ich die Gefahr, dass wir ökonomisch ins Hintertreffen geraten und politischen Einfluss verlieren; dann stellen wir in zehn oder fünfzehn Jahren eben fest, dass wir nicht mehr in der Champions League spielen. Aber es geht mir nicht in den Sinn, dass diese Entwicklung unabwendbar sein sollte und nicht von uns selbst korrigiert werden könnte.
    Schmidt:   Ich halte nicht für absolut sicher, was ich vorhin über die Stellung Europas in der Welt gegen Ende des 21. Jahrhunderts prognostiziert habe, wohl aber für wahrscheinlich. Ich bin seit 1948 ein überzeugter Anhänger der europäischen Integration gewesen und immer geblieben, nicht aus idealistischen Motiven, sondern überwiegend aus deutschen, national-egoistischen Motiven. Ich habe immer gewusst: Unsere deutsche Nation, im Zentrum Europas liegend, mit mehr Nachbarn als alle anderen Europäer, mit fast allen im Krieg gelegen, wir stehen vor der Wahl, entweder das fortzusetzen, was wir in den letzten eintausend Jahren gemacht haben – nämlich in die Peripherie vorzustoßen, wenn wir stark waren, und wenn wir schwach waren, von den anderen zurückgestoßen zu werden –, oder uns in eine europäische Gemeinschaft einzubinden. Deswegen war ich und bleibe ich ein Anhänger der europäischen Integration. Aber die Integration holpert seit zwanzig Jahren.
    Steinbrück:   Das ist eine ernstzunehmende Gefahr, zumal vieles darauf hindeutet, dass Europas Einfluss zu schwinden droht. Ich sehe in China Tendenzen, sich die Welt gemeinsam mit den USA aufzuteilen und zu einer Art G2 zu kommen. Besonders aufgefallen ist mir das bei der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen im Dezember 2009, als der amerikanische Präsident und ein eher nachgeordneter chinesischer Minister versuchten, die Konferenz bilateral zu bestimmen. Auf der anderen Seite sehe ich gleichzeitig Bestrebungen Chinas, sich mit anderen aufstrebenden Ländern zu organisieren, um gemeinsam ein Gegengewicht zu den USA und zu Europa zu bilden. Umworben werden zurzeit besonders Brasilien, Russland, Indien, aber zunehmend auch Südafrika. Diese Bestrebungen sind mir das erste Mal aufgefallen kurz vor dem zweiten Finanzgipfel in London im April 2009, als der chinesische Notenbankchef Zhou einen Artikel publizierte, in dem er die Frage aufwarf, ob das Weltwährungssystem nicht umgestellt werden müsste und anstelle des Dollars als Leitwährung nicht ein Währungskorb eingeführt werden sollte. Dieses Thema beschäftigt die aufstrebenden Länder nach wie vor und ist ein Indiz dafür, dass durch die Finanzkrise als eine Art Katalysator auch die Tendenz zur Multipolarität verstärkt worden ist.
    Schmidt:   Die Antwort auf die Frage, welche Strukturen sich bis in die Mitte dieses Jahrhunderts herausbilden werden, hängt ganz wesentlich davon ab, ob die europäische Integration fortgesetzt wird oder nicht. Wenn sie nicht fortgesetzt wird, dann werden wir die Tendenz erleben zu einer Polarisierung oder einer Zweiteilung der Welt zwischen den USA und China. Wenn sie aber fortgesetzt würde und wenn die Europäische Union tatsächlich handlungsfähig werden sollte, dann würde nicht nur Europa eine Rolle spielen, sondern auch zum Beispiel Lateinamerika, insbesondere Brasilien. Und dann würde auch nicht China allein Asien vertreten. In der Mitte dieses Jahrhunderts wird Indien genauso viele Menschen haben, wie China dann haben wird, nämlich anderthalb Milliarden Menschen. All das ist schwer zu prognostizieren. Meine Vermutung ist gleichwohl, dass wir bis in die Mitte des 21. Jahrhunderts eine ziemlich starke Tendenz zur Multipolarität erleben werden, und zwar mit mehreren großen Mitspielern. Die Voraussetzung dafür allerdings ist, dass die europäische

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