Zug um Zug
naturwissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten, das dem russischen Volk heute nicht zugutekommt.
Steinbrück: Nur wenn wir uns stärker mit Russland und seinen Problemen beschäftigen, wird es darüber möglicherweise auch zu einer engeren Verbindung kommen. Es gab zur Zeit der rot-grünen Koalition einmal die These von einer strategischen Allianz mit Russland. Ich weiß nicht, ob das überdimensioniert oder übertrieben war, aber diesen Ansatz in der augenblicklichen europäischen (und deutschen!) Außen- und Sicherheitspolitik sehr viel stärker wieder mit zu berücksichtigen erschiene mir klug und weise. Mir ist Schröders Einbeziehung Russlands in ein außenpolitisches Konzept, die er ja nicht als Alternative zur atlantischen und westeuropäischen Bindung ansah, sondern als Ergänzung, zu wenig gewürdigt worden; manche zogen ihre Bewertung auch durch das Nadelöhr seiner persönlichen Russland-Beziehungen. Das ist kurzsichtig.
Schmidt: Ich würde Ihnen zustimmen, dass Russland stärker berücksichtigt werden sollte. Ich muss aber auf ein dickes Problem aufmerksam machen, das als Hemmnis quer über dem Weg liegt. Das ist der Umstand, dass es nach wie vor ein gegenseitiges tiefes Misstrauen zwischen Russland und Polen gibt, verständlicherweise viel stärker auf polnischer als auf russischer Seite. Die Schwierigkeit für uns Deutsche ist: Wir möchten mit beiden kooperieren, aber in dem Maße, in dem wir mit den Russen kooperieren, ängstigen wir die Polen, und in dem Maße, in dem wir mit den Polen kooperieren, ängstigen wir die Leute im Kreml. Das bedarf eines unglaublichen Fingerspitzengefühls bei der politischen Klasse in Berlin. Und dieses Fingerspitzengefühl ist kaum ausreichend vorhanden.
Steinbrück: Immerhin hat Frau Merkel das deutsch-polnische Verhältnis erkennbar gefördert, bis hin zu der gemeinsamen –
Schmidt: Sie pflegt es.
Steinbrück: »Pflegt« ist das bessere Wort – bis hin zu der gemeinsamen Kabinettsrunde mit dem polnischen Ministerpräsidenten. Die Qualität des deutsch-polnischen Verhältnisses unterscheidet sich wohltuend von früheren Zeiten. Das Erbe der europäischen Geschichte sitzt übrigens nicht nur bei den Polen tief. Auch andere mittelosteuropäische Länder haben diesen Schraubstock gespürt, eingezwängt zwischen einem mächtigen Preußen-Deutschland auf der einen Seite und auf der anderen einer starken, in zaristischen und kommunistischen Zeiten expansiven, um nicht zu sagen: aggressiven Politik Russlands.
Schmidt: Ich stimme Ihren positiven Bewertungen von Merkels Polen-Politik zu. Ich muss aber in Erinnerung rufen, dass dem gegenüber ihre sehr kühle Behandlung Moskaus steht, zum Beispiel der Vorwurf an die Adresse Putins, die Menschenrechte würden in Russland keine ausreichende Rolle spielen.
Steinbrück: Na ja, ist das nicht zutreffend?
Schmidt: Ob es zutrifft, ist eine Frage; ob man es als deutscher Kanzler so sagen soll, ist eine andere. Und die letztere Frage würde ich verneinen.
Steinbrück: Muss man deshalb Putin einen lupenreinen Demokraten nennen?
Schmidt: Nein, gewiss nicht. Putin regiert im Rahmen jahrhundertealter russischer Traditionen, aber auf der Grundlage einer demokratischen Verfassung.
Steinbrück: Ich hätte mir übrigens gewünscht, dass es in Berlin eine Veranstaltung zum 70. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion gegeben hätte. Die hat es nicht gegeben, und das halte ich für einen schweren Fehler. In Moskau standen die Leute nachts um 4 Uhr zu Tausenden auf dem Roten Platz. Ich fand es allerdings wohltuend, dass die deutschen Medien diesen Jahrestag angemessen ins Gedächtnis insbesondere der jüngeren Generation gehoben haben. Während es in der medialen Öffentlichkeit also durchaus eine angemessene Würdigung gegeben hat, war auf der politischen Ebene in Deutschland eine gewisse Ignoranz gegenüber diesem Termin spürbar.
Schmidt: Peer, wie lange wird es dauern, bis alle unsere Nachbarn den deutschen Überfall und die Besatzung hinter sich lassen?
Steinbrück: Das hängt wesentlich von uns Deutschen selber ab. Wir müssen bestrebt sein, europäische und deutsche Interessen immer im Gleichgewicht zu halten. Das bleibt die Aufgabe für alle künftigen Generationen.
Politik als Beruf
Schmidt: Wann sind wir uns eigentlich das erste Mal begegnet, Peer?
Steinbrück: Das muss im September 1979 gewesen sein, Helmut, als ich kleiner Mitarbeiter im
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