Zug um Zug
erst dreißig oder fünfzig war. In dem Zusammenhang, von dem Sie sprechen, Peer, denke ich an das Ende des 21. Jahrhunderts. Europa liefert möglicherweise die Blaupausen, so haben Sie gemeint. Die Europäer sollten sich zunächst einmal darüber im Klaren sein, dass sie am Ende des 19. Jahrhunderts ein Viertel der Weltbevölkerung ausgemacht haben, hingegen am Ende des 21. Jahrhunderts noch ganze fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen werden – einschließlich ganz Russlands bis nach Kamtschatka. Noch fünf Prozent! Und wahrscheinlich werden schon in der Mitte dieses Jahrhunderts nur noch elf oder zwölf Prozent der Wertschöpfung der ganzen Welt – also des globalen Bruttoinlandsprodukts – auf Europa entfallen. Nur noch elf Prozent! Heute vor sechzig Jahren, im Jahre 1950, lag die Wertschöpfung der Europäer einschließlich der damaligen Sowjetunion bei über 30 Prozent. Diese beiden Größen, der Anteil an der Weltbevölkerung und der Anteil an der Wertschöpfung der Welt, sinken zwangsläufig gewaltig ab – und weshalb? Weil die Weltbevölkerung gewaltig wächst, nicht aber die Bevölkerung Europas. Die Bevölkerung Europas schrumpft und überaltert. Die Überalterung bringt mit sich einen Abfall der Innovation, alte Leute erfinden keine neuen elektronischen Geräte. Das tun junge Leute, und die jungen Leute fehlen bei uns.
Steinbrück: Dem kann ich nicht widersprechen, weil es unwiderlegbar ist.
Schmidt: Dann fahre ich fort. Der Überalterung der europäischen Gesellschaft und ihrer gleichzeitigen Schrumpfung steht gegenüber die Bevölkerungsexplosion in den anderen Teilen der Welt. Als mein Vater zur Schule ging, im Jahre 1900, lebten auf der Welt 1,6 Milliarden Menschen. Heute sind wir bei sieben. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die Menschheit um den Faktor 4 vermehrt. Das hat es in der gesamten Menschheitsgeschichte niemals vorher gegeben; das hat seine Gründe, die will ich im Augenblick beiseitelassen. Zusätzlich zu dieser Explosion der Weltbevölkerung, die sich ausschließlich in Asien, Afrika und Lateinamerika vollzogen hat, erleben wir zwei neue Phänomene, die uns nur langsam ins Bewusstsein treten. Das eine ist die Beschleunigung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Das andere ist die durch diese Beschleunigung möglich gewordene Globalisierung, das Zusammenrücken der Welt auf einem einzigen großen Marktplatz. Wenn ich mir vor diesem Hintergrund Ihre ursprüngliche Fragestellung noch einmal vergegenwärtige – kann Europa Vorbild sein? –, dann fällt meine Antwort sehr vorsichtig aus.
Steinbrück: Was Sie schildern, ist im Trend klar erkennbar und führt nicht nur zu einer völligen Neuverteilung der politischen Gewichte, sondern auch des Wohlstands auf der Welt. Die europäischen Gesellschaften sind darauf kaum vorbereitet. Die Frage, wie entwickelt sich unsere Produktivität, wie kann die Innovationsfähigkeit einer älter werdenden Gesellschaft erhalten werden, auch ihre Neugier und Kreativität, ist in meinen Augen eine der zentralen Fragen zur Zukunftsfähigkeit der Deutschen. Ich nehme an, dass wir darauf noch zurückkommen werden. Aber das, was Sie sagen, Helmut, ist mir etwas zu deterministisch. Demnach scheint es unabwendbar zu sein, dass das ökonomische Gewicht und der politische Einfluss Europas abnehmen werden. Ich bin mir da nicht so sicher – wenn sich denn Europa besser organisieren und zum Beispiel ein gemeinsames Angebot entwickeln würde, das für die aufstrebenden Länder des Maghreb wirtschaftlich attraktiv wäre und Jugendlichen eine berufliche Perspektive im eigenen Land bieten könnte.
Schmidt: Also, gegen Ihren Vorwurf des Determinismus muss ich mich wehren. Ich will aber noch etwas nachtragen zur Beschleunigung des technologischen Fortschritts, der gegenwärtig kulminiert in der Mikroelektronik. Ich will darauf aufmerksam machen, dass der sogenannte arabische Frühling nur möglich gewesen ist durch die Mikroelektronik, nämlich erstens durch Al Jazira, einen Fernsehsender, der sowohl in Algerien als auch in Marokko als auch im Jemen als auch in Syrien von Millionen Menschen gesehen wird; er sendet in den beiden wichtigen Sprachen, Arabisch und Englisch. Und zweitens: Diese jungen Leute, die da aufbegehren, sind zwar zu einem großen Teil arbeitslos, gleichwohl haben viele von ihnen Mobiltelefone und Zugang zum Internet. Ohne Internet und ohne Al Jazira wäre es nicht möglich gewesen, diese
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