Zug um Zug
übrigens teilweise unter Mitwirkung von Stasimitarbeitern oder jedenfalls einigen, die mit der Stasi verflochten waren –, war es völlig undenkbar, in Erinnerung an Verfolgung und Demütigung diejenigen aufzunehmen, die sie verantwortlich machten für die vielen Opfer und die Unbilden ihres täglichen Lebens. Darin waren CDU und FDP viel freier; die hatten nie Schwierigkeiten damit, die ehemaligen Blockflötenmitglieder aufzunehmen. Aber für den ehrlichen Teil innerhalb der neugegründeten Ost-SPD war es undenkbar, sich zu öffnen für SED-Mitglieder, die Gräben waren einfach zu tief.
Schmidt: Ganz am Anfang des Vereinigungsprozesses verfolgte die Westberliner Justiz besonders Wolfgang Vogel, der als Anwalt auf Seiten der DDR unseren Freikauf von Häftlingen organisiert hatte. Ich hatte Vogel vertraut und war empört über die Anklage. Ich habe ihn demonstrativ, unter Bestellung von Fernsehkameras, im Gefängnis in Moabit besucht und habe ihm meinen Mark Aurel mitgebracht als Mahnung zur Gelassenheit. Der ehemalige Bundeskanzler wurde auf Weisung der Staatsanwälte in Westberlin am Eingang zum Gefängnis nach Waffen abgetastet. Der Gefängnispfarrer bat dann Vogel und mich in sein Zimmer im Gefängnis, und da haben wir endlos miteinander geredet. Hans-Dietrich Genscher hat das zwei, drei Tage später genauso gemacht: Wir waren empört über die Art und Weise, wie diese Westberliner Justiz sich da aufgeführt hat. Das Gleiche gilt mit Blick auf Manfred Stolpe.
Steinbrück: Der wurde lange verdächtigt als IM »Sekretär«.
Schmidt: Das war eine Klassifizierung in der Kartei der Stasi, nichts, was er selber akzeptiert hätte. Diese verdammte Rumschnüffelei in den Karteien der geheimen Polizei der DDR finde ich zum Kotzen! Ich habe mich nie im Leben interessiert für die Akte, die die über den Schmidt haben.
Steinbrück: Die ist wahrscheinlich auch ziemlich dick.
Schmidt: Das nehme ich an.
Steinbrück: Mein Problem sind nicht die kleinen SED-Leute oder die Schnüffler dort, mein Problem gegenüber der SED und ihren Nachfolgeorganisationen ist, dass sie sich der Bewältigung ihrer historischen Verantwortung nie gestellt haben. Ich stehe da stark unter dem Eindruck des Besuchs des Stasi-Gefängnisses in Hohenschönhausen. Da muss man gewesen sein, um die Niedertracht wirklich zu begreifen, die ausgeübt wurde gegenüber politisch Verfolgten. Man muss wissen, wie Frauen in den Gefängnissen behandelt worden sind und wie das Leben von Kindern aus Elternhäusern, die dem Regime nicht passten, systematisch kaputt gemacht wurde. Eine solche Aufarbeitung verlange ich von der jetzigen Linkspartei, bevor auch nur ansatzweise eine Annäherung zwischen SPD und Linkspartei politisch debattiert wird. Das schließt den respektvollen Umgang mit Mitgliedern dieser Partei und ehemaligen SED-Mitgliedern überhaupt nicht aus. Noch einmal: Die Mitverantwortung für Verhältnisse, die Menschen zu Opfern gemacht haben, die fehlt mir bei der Linkspartei, und diese Verdrängung nehme ich denen übel. Die schäbige Rolle, die diese Partei im Umgang mit ihrer Vergangenheit spielt, trat das letzte Mal bei der Bundespräsidentenwahl offen zutage, als die Linke nicht nur nicht in der Lage war, den Kandidaten Gauck anzunehmen, sondern obendrein versucht hat, ihn zu diskreditieren.
Schmidt: Würden Sie sagen, dass die psychische Vereinigung der beiden getrennt gewesenen Teile der Nation weitgehend bereits gelungen ist, oder muss man sagen: Sie ist weitgehend noch nicht gelungen?
Steinbrück: Es gibt Fortschritte, aber insgesamt ist sie noch nicht gelungen. Die Problematik, die ich spüre, wann immer ich in den neuen Bundesländern bin, überwiegend in Brandenburg, ist, dass diejenigen im Alter zwischen zwanzig und dreißig zunehmend wegziehen. Was da stattfindet, nennen die Engländer »brain drain«. Insbesondere gutqualifizierte Frauen gehen weg und hinterlassen teilweise im ländlichen Raum einen relativ schlecht ausgebildeten Teil von Männern, die zunehmend das Reservoir auch für Rechtspopulisten sind. Das spielt sowohl mit Blick auf die politische Radikalisierung wie mit Blick auf die ökonomischen Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufstieg dieser Länder – Stichwort qualifizierte Arbeitnehmerschaft – eine größere Rolle, als wir das bisher öffentlich dargestellt oder aufgearbeitet haben.
Schmidt: Peer, kann man sagen oder darf man sagen, dass die Tatsache, dass mit Frau
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