Zug um Zug
Wiedervereinigung, oder hat Adenauer mit der Westbindung recht? Hat Adenauer recht mit der europäischen Integration, oder hat Ludwig Erhard recht, der dagegen war? Oder denken Sie an den in bitteren Parlamentsdebatten über anderthalb Jahrzehnte ausgefochtenen Streit über die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik. Oder dann die Ostpolitik. Oder dann der berühmte oder berüchtigte NATO-Doppelbeschluss. Das alles waren Fragen von tiefgreifender Bedeutung, und das wiederum verlangte nach akzentuierter Stellungnahme und verlangte nach Führung.
Es scheint so, als ob die Fragen, die heute im Parlament verhandelt werden, vom Gewicht her eine geringere Qualität hätten. In Wirklichkeit hat zum Beispiel die Frage nach der Zukunft der Europäischen Union in meinen Augen ein ungeheures Gewicht, aber das wird gar nicht begriffen und erkannt, weder vom Publikum noch vom Parlament. Es kommt hinzu, dass die Medien sich angewöhnt haben, das Parlament für unwichtig zu halten – ihre ewigen Talkshows halten sie für viel wichtiger. Sie veranstalten eine nach der anderen, an jedem Wochentag außer Samstag, und was hier geredet wird, wird zur Quelle der politischen Information für die Öffentlichkeit. In Wirklichkeit ist es eine Quelle der Desinformation, weil jeder nur drei Minuten redet, dann kommt der andere dran, und am meisten redet der Talkmeister. Das läuft hinaus auf eine vollkommene Entpolitisierung des Publikums.
Steinbrück: Merkwürdigerweise treffe ich sehr viele Menschen, die das genauso sehen wie wir, aber trotzdem gibt es diese Laberrunden, und trotzdem schalten Leute ein. Ich teile die Auffassung, dass die Talkshows zu einer Art Politikersatz geworden sind. Aber wir dürfen auch nicht vergessen: Die Politiker tragen durch ihre Beteiligung selber zum Bedeutungsverlust des Parlaments bei.
Schmidt: Richtig.
Steinbrück: Also sollte man sich in den Talkshows rarmachen, dort sehr selten auftreten.
Schmidt: Ich habe mich seit tausend Jahren aus diesem Grunde an keiner Talkshow beteiligt. Sondern immer nur eins zu eins oder zwei zu eins, aber niemals mehr.
Steinbrück: Noch mal zurück zu den Parlamentsdebatten, Helmut. Ich bin mir nicht so sicher, dass die Anzahl der existenziell bedeutenden Debatten wirklich so stark abgenommen hat. Finanzkrise, Europa, Präimplantationsdiagnostik – das sind Debatten aus den letzten Jahren, die auch tiefgreifende Auswirkungen haben. Die qualitativ beste Parlamentsdebatte, die ich seit langem verfolgt habe, ist diejenige über die Präimplantationsdiagnostik gewesen. Übrigens auch deshalb qualitativ hochstehend, weil es keinen Fraktionszwang gab und in allen Fraktionen sehr verantwortungsbewusst mit dem Thema umgegangen wurde. Ich glaube, dass die PID-Debatte eine Sternstunde des Parlamentarismus gewesen ist. Aber unabhängig von den Themen habe ich den Eindruck, dass es in den fünfziger und sechziger Jahren größere rhetorische Talente gegeben hat, die der freien parlamentarischen Rede mächtig gewesen sind. In vielen Parlamentsdebatten heute kriege ich mit, dass einfach vom Blatt abgelesen wird – und dass das für das Publikum natürlich stinklangweilig ist.
Schmidt: Ob langweilig oder nicht, jedenfalls muss man den beiden großen öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten den Vorwurf machen, dass sie dem Publikum die Parlamentsdebatten vorenthalten.
Steinbrück: Auf der anderen Seite ist die Überreizung inzwischen so weit fortgeschritten, dass das Publikum nur noch dann auf Politik reagiert, wenn ein hoher Unterhaltungswert oder möglichst viel Zoff mitgeliefert wird. Das wäre auch eine Erklärung für den Erfolg der Talkshows. Sie sagten vorhin, wie wichtig es für die politische Arbeit gewesen sei, dass es in den fünfziger Jahren noch kein Fernsehen gab. Heute leben wir unter permanenter Reizüberflutung, und man muss sich schon einiges einfallen lassen, um die Menschen dazu zu kriegen, einzuschalten und eine Bundestagsrede zu verfolgen.
Schmidt: Es gab zum Beispiel bei den Sozialdemokraten einen wunderbaren Redner, der heute gebeten werden konnte, morgen die große Rede in der Debatte zur Aufhebung der Verjährungsfrist für den Straftatbestand des Mordes zu halten, und den man nächste Woche bitten konnte, eine Rede zu halten über die Vervollkommnung des gemeinsamen Markts durch das Mittel der römischen Verträge. Zu diesen und vielen anderen Themen hatte er genug im Kopf, um es am nächsten Vormittag in der Debatte
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