Zug um Zug
das hat in Deutschland Tradition. Der berüchtigte Satz von Wilhelm II. lautete: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.
Schmidt: Er hat die Parteien vorher auch nicht kennen wollen.
Steinbrück: Das hat sich fortgesetzt in der Häme über den Reichstag als »Schwatzbude« der Weimarer Republik, was ja auf eine Ablehnung oder zumindest eine Missachtung der Parteien hinauslief, und das setzt sich bis heute fort. Nur: Wenn ich die Menschen frage, die eine große Ferne und vielleicht sogar Verachtung haben gegenüber Parteien, wie sie sich denn eine funktionierende Demokratie über eine demokratisch legitimierte Willensbildung vorstellen, dann haben sie keine Antwort. Mich beschäftigt dieses Thema zunehmend, auch weil ich hierzu in den letzten Monaten eine persönliche Erfahrung gemacht habe. Wenn ich auf meinen Lesereisen von einem Literaturhaus eingeladen wurde, von einer Buchhandlung, von einer Universität, dann waren die Säle voll. Wenn ich von der SPD eingeladen wurde, war höchstens ein Zehntel an Besuchern da. Darüber habe ich lange auch mit Sigmar Gabriel als Parteivorsitzendem geredet. Ich habe ihm gesagt: Wir müssen unsere Veranstaltungsformate ändern. Die Leute gehen nicht zu Veranstaltungen, wo ein Parteiname obendrüber steht, weil sie den Eindruck haben, sie werden nur agitiert und mit Parteideutsch gequält, während bei einem neutralen Gastgeber die politische Neugier und das Interesse geweckt werden.
Schmidt: Das ist ganz gewiss richtig. Ich will hier mal eine kleine Erinnerung unterbringen. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren war ich acht Jahre lang Vorsitzender eines großstädtischen Kreisverbandes der SPD. Mein Kreisverband Hamburg-Nord hatte 10000 Mitglieder, so viel hat die ganze hamburgische SPD heute ungefähr. Warum waren wir damals so attraktiv? Erstens: Es gab noch kein Fernsehen. Diese Abendunterhaltung für jedermann gab es nicht, sondern die Leute gingen in die Kneipe und spielten Skat – die Männer. Aber wichtig war, zweitens, dass wir thematisch weit über die Parteipolitik der SPD hinausgriffen. Der Kreis Nord in Hamburg machte öffentliche Veranstaltungen im Winterhuder Fährhaus – das ist inzwischen abgerissen und durch einen Theaterbau ersetzt worden – mit Rednern von anderen Parteien oder mit Rednern aus der katholischen Kirche oder mit Rednern aus der evangelischen Kirche. Das heißt, schon das Plakat machte klar, dass hier keine SPD-Politik verzapft wird. Die wurde in Wirklichkeit natürlich doch verzapft, aber die Anmutung für den, der das Plakat sah oder der in der Zeitung die Anzeige gelesen hatte, war nicht: Hier spricht die SPD.
Steinbrück: Das entspricht exakt meiner Erfahrung. Und zwar ist das Interesse umso größer, je dialogischer die Veranstaltung aufgebaut ist. Wenn ich befragt werde von Miriam Meckel, von Herrn Kilz von der Süddeutschen Zeitung , von Ulrich Wickert oder von einem Pastor oder von einem Professor, die erkennbar nicht parteigebunden sind, und es artet nicht in eine 45-minütige Frontalrede von mir aus, sondern es entwickelt sich sehr schnell ein Dialog, und anschließend beteiligt sich das Publikum, dann empfinden die Bürger das als spannend. Mich wundert nur, wie stark die etablierten demokratischen Parteien verhaftet sind in ihren alten, eher langweilig anmutenden Veranstaltungsformaten. Klatschmarsch, Einzug, irgendein Musikstück, eine 60-minütige agitatorische Rede, nach der die anderen immer die Vollidioten und die eigenen Leute immer die Schlaumeier sind, obwohl jeder im Publikum weiß, dass die Verteilung von Schlaumeiern und Idioten der Normalverteilung der Bevölkerung entspricht, und nach den sechzig Minuten –
Schmidt: Das ist druckreif!
Steinbrück: Und nach den sechzig Minuten noch irgendein Schlusswort, das wie immer viel zu lang wird, dann acht Minuten Beifall, einige sind mit der Stoppuhr dabei, wie lange das wirklich dauert, Ende der Veranstaltung.
Schmidt: Das Thema, das wir im Augenblick am Wickel haben, berührt ein anderes Thema: Warum spielt das Parlament im Bewusstsein der öffentlichen Meinung heute eine so geringe Rolle? Ich will versuchen, eine Antwort zu geben. In den fünfziger und sechziger Jahren, auch noch in den siebziger Jahren gab es für den Deutschen Bundestag wichtige Fragen, zum Teil Existenzfragen, zu entscheiden. Es gab zum Beispiel in den fünfziger Jahren zu entscheiden: Hat Kurt Schumacher recht mit seiner Politik der
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