Zug um Zug
emanzipierte Englisch- und Geschichtslehrerin, die mich positiv geprägt hat. Aber ich muss zugeben, ich habe auch noch Lehrer kennengelernt in den fünfziger Jahren mit Kriegsverletzungen aus dem Ersten Weltkrieg, Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg, Lehrer, die in meinen Augen alle unfähig waren, als Pädagogen zu wirken. Ich habe eine katastrophale Schulgeschichte in der Mittelstufe gehabt, aber die lassen wir hier mal weg.
Schmidt: Studienräte an höheren Schulen haben entweder Physik und Mathematik studiert, oder sie haben Physik und Chemie studiert, oder sie haben Mathematik und Biologie studiert, oder sie haben Germanistik studiert. Und dann werden sie im reifen Alter von 25 Jahren zum ersten Mal auf eine Klasse junger Leute losgelassen und wissen überhaupt nicht, was in deren Seelen vor sich geht. Auf den Beruf des Lehrers sind sie am allerwenigsten vorbereitet. Sie sind vornehmlich vorbereitet darauf, wissenschaftliche Kenntnisse zu vermitteln. Das ist alles. Die Ausbildung der Lehrpersonen in Deutschland, die Ausbildung der Fähigkeit, Vorbild zu sein und gleichzeitig jemand zu sein, an den die jungen Leute sich anlehnen können, die liegt im Argen. Das lernt auch ein Professor in Deutschland nicht. Es gibt welche, die können das, weil sie dazu veranlagt sind, oder sie haben es im Laufe ihres Dozentendaseins durch die Praxis gelernt. Viele haben es nicht gelernt. Ein junger Mensch muss rechtzeitig merken, ob er mit Kindern umgehen kann oder ob er lieber Vorgesetzter einer Gruppe von Technikern wird, die einen Hochspannungsmast in der Landschaft errichten sollen. Wenn die Erfahrung zeigt, dass er nicht geeignet ist, dann muss es jemanden geben, der ihm sagt: Junge, sattle um und mach was anderes.
Steinbrück: Ich würde gern eine Lanze brechen für eine größere gesellschaftliche Anerkennung des Berufs der Lehrerinnen und Lehrer. Weil dieser Beruf entscheidend ist für die Fortentwicklung unserer Gesellschaft, nicht nur mit Blick auf die demographischen Auswirkungen, sondern auch mit Blick auf die Probleme der Integration. Bei Schulbesuchen gewinne ich zunehmend den Eindruck, dass viele Elternhäuser, wenn es denn überhaupt noch intakte Elternhäuser sind, ihren elterlichen Erziehungsauftrag bequem an Lehrer und Lehrerinnen delegieren und sie damit überfordern. Dabei rede ich nicht einmal von Schulen in sozialen Brennpunkten, die noch mit ganz anderen Herausforderungen konfrontiert sind. Ich habe den Eindruck, dass die Schulen insgesamt entlastet werden müssen, eventuell auch durch Verwaltungsangestellte, die dafür Sorge tragen, dass die Lehrer ihrem eigentlichen pädagogischen Auftrag nachkommen können und nicht vollgemüllt werden mit bürokratischen Tätigkeiten. In sozialen Brennpunkten brauchen wir Schulpsychologen und Sozialarbeiter. Und der Staat wird sich darauf einstellen müssen, mehr besser ausgebildete Lehrer auch zur Verbesserung der Schüler-Lehrer-Relation einzustellen. Das alles wird etwas kosten.
Schmidt: Nicht notwendigerweise besser ausgebildet, anders ausgebildet. Die Schulpsychologen sind nur deswegen notwendig, weil die Lehrer nicht gelernt haben, mit jungen Leuten richtig umzugehen.
Steinbrück: Ja und nein. Viele Lehrer haben Schülerinnen und Schüler in ihren Klassen, die schon vorher in ihren Elternhäusern vermurkst worden sind oder die gar keine Elternhäuser mehr kennen. Ich habe in Schulen Kinder im Alter von sechs oder sieben Jahren erlebt, die nicht die normale Uhr lesen, sondern die Zeit nur digital am Fernseher ablesen konnten. Ich habe in Kindergärten im dritten Kindergartenjahr Kinder erlebt, die nicht mit einem Löffel umgehen können, weil sie zu Hause nur Fast Food essen. Ich habe es erlebt, dass Kindergärtnerinnen um 4 Uhr kleine Mädchen und kleine Jungs nach Hause brachten, an der Tür klingelten, und niemand war da, und sich dann mit großem Einsatz bis zum Abend selber um diese Kinder kümmerten. In vielen Familien gibt es schon lange keinen Tisch mehr, an dem beim gemeinsamen Essen Gespräche geführt werden. Das Ausmaß an Auflösungstendenzen von Familienstrukturen wird zunehmend zu einem massiven Problem in den Schulen, und es wird abgeladen auf den Schultern von Lehrern und Lehrerinnen.
Schmidt: Ja, Sie haben recht, ich war zu einseitig.
Steinbrück: Deshalb war es auch in meinen Augen sehr gefährlich, dass ein Sozialdemokrat in dem Zusammenhang von den »faulen Säcken« geredet hat, von dem »Gedöns«. Das hat uns
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