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Zug um Zug

Zug um Zug

Titel: Zug um Zug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt / Peer Steinbrück
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vorzutragen, und außerdem verfügte er über die entsprechenden rhetorischen Fähigkeiten. Das war Fritz Erler. Der hatte in der Nazizeit jahrelang im Lager gesessen und nie eine Universität von innen gesehen. Das war eine Naturbegabung sondergleichen, außerdem war er ein unglaublich fleißiger Mann, der sich all die Bildung, die er besaß, autodidaktisch erworben hatte. So was ist heute ganz selten.
    Steinbrück:   Und es gab Carlo Schmid.
    Schmidt:   Carlo Schmid war etwas anders. Carlo Schmid machte eine akademische Laufbahn; der hatte die Universität nicht nur von innen gesehen, sondern wurde sogar Professor, er sprach Fremdsprachen und war auch philosophisch gebildet. Aber er und Fritz Erler, das waren Ausnahmen. Insgesamt glaube ich nicht, dass es größere rhetorische Talente gegeben hat als heute.
    Steinbrück:   Dann reden wir lieber von Begabungen.
    Schmidt:   Was einer aus seiner Begabung macht, hängt im Wesentlichen von der Erziehung ab. Die Erziehung beginnt im Säuglingsalter, setzt sich fort im Kindergarten und in der Schule und wird dort sehr stark durch Beispiel und Vorbild bestimmt. Jemand kann eine rednerische Naturbegabung haben, aber zur Rhetorik gehört eben auch eine gewisse Technik. Man muss lernen, wie man präsentes Wissen innerhalb von Sekunden aus dem Hinterkopf in den vorderen Teil des Gehirns transportiert und den Satz dann so ausspricht, dass er nicht nur einen Anfang hat und nicht nur ein Subjekt, sondern auch ein Prädikat und auch ein Ende. Das muss man lernen. Bei den alten Griechen heute vor 2500 Jahren war Rhetorik eine der wichtigsten akademischen Disziplinen.
    Steinbrück:   Heute finde ich das auf amerikanischen und englischen Schulen. Da zählt die Kunst, zu debattieren, zum Unterrichtsstoff; man muss sich vor die Klasse stellen und eine Ansprache oder ein Referat halten. Deshalb sind sie später in ihren Reden meistens kürzer, prägnanter und häufig auch spritziger als wir. Ich gebe zu, das erste Mal, dass ich vor einer Gruppe zu stehen und mich klar auszudrücken hatte, war bei der Bundeswehr. Als ich Zugführer war für ungefähr dreißig Leute und nicht nur »Hacken zusammen« oder »Augen rechts« oder »Augen links« sagen musste, sondern denen Wegweisung zu geben hatte, da habe ich das gelernt.
    Schmidt:   Ich habe das in der Schule gelernt. Ich war auf einer sehr besonderen Schule, auf der die Künste, die Musik, die Malerei, das Theater, die Literatur, die bei weitem wichtigste Rolle spielten – Sprachen und Physik und Naturwissenschaften leider eine sehr kleine Rolle. Es gab dort ein Fach, das hieß Kulturkunde, das fasste Religion, Deutsch, Literatur und Geschichte zusammen. Das waren viele Stunden in der Woche, und es hing von dem Lehrer ab, was er draus machte. Als später die Nazis ans Ruder kamen, wurde die Kulturkunde aufgelöst, und es gab das Fach Geschichte. Die Geschichtsstunde lief folgendermaßen ab: Der Lehrer betrat die Klasse, Herr Roemer, ein netter Kerl, kein Nazi, und dann stand entweder der Jürgen Remé oder der Helmut Schmidt auf und sagte: Herr Römer, erklären Sie uns doch bitte mal, wie ist das wirklich gewesen mit der Emser Depesche. Das hatte mit dem Lehrstoff der Stunde überhaupt nichts zu tun. Dann gab es eine Diskussion über Bismarck und seine Politik gegenüber Frankreich. Der Remé hatte Bücher gelesen, der Schmidt hatte Bücher gelesen, und dann entstand eine Diskussion zu dritt, und die Klasse hörte zu. Die nächste Stunde verlief ähnlich, fing vielleicht nicht mit der Emser Depesche an, sondern mit der Schlacht des Varus, der seine Legionen am Teutoburger Wald verlor. Das war wieder eine Diskussion zu drei Leuten. So habe ich mit fünfzehn, sechzehn Jahren gelernt zu debattieren. Natürlich musste man im Hintergrund ein bisschen Wissen haben, und das musste man auch richtig einsetzen.
    Steinbrück:   Ich erinnere mich an einige Lehrer, die mich maßgeblich geprägt haben. In der Oberstufe war ich auf einem Wirtschaftsgymnasium, und im Fach Wirtschaftslehre gab es einen Oberstudienrat, der die Bandbreite der Wirtschaftstheorien sehr offen darstellte; er hatte deshalb auch keine Mühe, seiner Klasse zwei oder drei Monate die marxistische Wirtschaftstheorie auf der Basis der Bücher von Iring Fetcher zu vermitteln. Das war Mitte der sechziger Jahre, als viele sich nach dem Aussprechen des Namens Karl Marx noch die Zähne putzten. Das finde ich auch in der Nachbetrachtung bemerkenswert. Ich hatte eine sehr

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