Zug um Zug
das Misstrauensvotum von Oktober 1982 nicht doch als Niederlage empfunden?
Schmidt: Nein, das war eine Befreiung, das war wirklich eine Befreiung.
Steinbrück: Manch einer glaubt das nicht.
Schmidt: Ich weiß es aber.
Steinbrück: Inzwischen wissen Sie es, Helmut.
Schmidt: Nein. Zwei Tage später kam meine Frau, die war auf einer Expedition im brasilianischen Urwald, im Amazonasgebiet, und suchte nach irgendwelchen seltenen Pflanzen, die nur in den Baumkronen wuchsen. Sie kam vorzeitig nach Bonn zurück, ganz unzureichend informiert, und war deshalb ein bisschen aufgeregt. Sie fand mich vollständig gelassen vor, und am Ende waren wir beide ganz gelassen. Das ist keine nachträgliche Verschönerung.
Was mich geärgert hat, war, dass Genscher mich um eine halbe Stunde gelinkt hatte. Das hat mich wirklich geärgert. Aber es war in Wirklichkeit nicht so wichtig. Aus einem Anfall von Fairness habe ich, eine halbe Stunde ehe ich im Bundestag die Rede halten wollte, in der ich die Entlassung der FDP-Minister bekanntzugeben beabsichtigte, eine halbe Stunde vorher habe ich Herrn Genscher zu mir gebeten und gesagt: Lieber Freund, jetzt ist’s zu Ende. Und da hat er gesagt: Ich erkläre Ihnen hiermit den Rücktritt der FDP-Minister. Also, darüber habe ich mich damals geärgert, aber das hatte mit der Abgabe der Regierungsgewalt an eine andere Koalition in Wirklichkeit nichts zu tun, es war eine äußerliche Geschichte.
Steinbrück: Ich erinnere die ersten zwei, drei Jahre der Kanzlerschaft von Helmut Kohl. Ich will die nicht sehr vorteilhaften Bezeichnungen gar nicht wiederholen, die damals über ihn verbreitet worden sind. Hat Sie da nicht gelegentlich doch das Gefühl erfasst, nachts vor dem Einschlafen, dass Sie eigentlich der bessere Mann sind?
Schmidt: Nein, dieser Gedanke ist mir nicht gekommen. Ich war sehr zufrieden, dass er in der Außenpolitik, in der Sicherheitspolitik und in der ökonomischen Politik praktisch die Politik fortsetzte, die wir betrieben haben. Und zweitens: Für mich war die Befassung mit der Politik zu Ende, ich ging auf Reisen und fing an, Bücher zu schreiben. Und fast gleichzeitig mit dem Ende der Koalition kam das Angebot von Gerd Bucerius, in die Zeit einzutreten, das ich, ohne lange zu überlegen, sofort angenommen habe, nicht mal wissend, ob das mit Einkommen verbunden war oder ob das praktisch umsonst sein würde. Das hat mich einfach gereizt. Ich habe die Kandidatur zum Bundestag noch mal angenommen, aber nicht mit großem Engagement, eigentlich mehr aus Treue zu meinem Wahlkreis und zu meinen Wählern in Hamburg-Bergedorf. Aber dem Drängen der sozialdemokratischen Führung, mich als Kanzlerkandidat in diesen Wahlkampf zu bringen, habe ich mich strikt widersetzt. Für mich war das Kapitel Politik zu Ende.
Erst das Land, dann die Partei
Schmidt: Peer, ich habe gelesen, dass Sie 1969 in die SPD eingetreten sind. Was waren Ihre Beweggründe?
Steinbrück: Das hatte mit dem Aufbegehren der jüngeren Generation in den sechziger Jahren zu tun. Viele von uns wollten den Muff der Adenauer-Zeit abstreifen, sich den autoritären Strömungen widersetzen, sich auch der kulturellen Biederkeit entziehen. Das spielte eine große Rolle. Hinzu kam zweitens der Wunsch nach einer Aufarbeitung der Nazizeit. Und drittens natürlich die damals charismatisch anmutende Figur von Willy Brandt, wobei mich seine Verunglimpfungen durch die CDU/CSU einschließlich Adenauers besonders empörten. Es ging mir maßlos gegen den Strich, dass diese Parteien, die doch die bürgerliche Wohlanständigkeit gepachtet zu haben glaubten, einen politischen Herausforderer unter Hinweis darauf bekämpften, dass er unehelich geboren und während der Nazizeit ins Exil gegangen war. Ein weiteres Motiv war die Frage des Umgangs der Bundesrepublik Deutschland mit der DDR: Wie kommt man aus dieser konfrontativen, völlig bewegungslosen Situation heraus? Die berühmte Formel von Egon Bahr: Wandel durch Annäherung. Das waren wesentliche Gründe, die mich Ende der sechziger Jahre in die SPD brachten.
Erstaunlicherweise war es ein Bundeswehroffizier, der mich zur SPD gebracht hat. Er gehörte der sogenannten Leutnant-70-Bewegung an. Das waren junge Offiziere, die im Sinne der inneren Führung, repräsentiert durch Generäle wie Baudissin und de Maizière, den Vater des jetzigen Verteidigungsministers, versuchten, der Armee eine andere Orientierung und ein anderes Selbstverständnis zu geben,
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