Zug um Zug
gut in Erinnerung. Die waren vernichtend für diese Koalition. Und da ging es um die Frage im Kanzleramt, wie denn ein Sprung gemacht werden könnte, nicht der große Sprung à la China, aber ein Reformsprung, der den Namen verdient, und den Auftrag dafür kriegte kein anderer als der Chef des Kanzleramtes, Frank-Walter Steinmeier. Was Schröder dann ex cathedra verkündete in einer Regierungserklärung im März 2003, fand vor diesem Hintergrund statt: dass viele dieses Deutschland als unbeweglich betrachteten, als ein Land auf dem absteigenden Ast, verkrustet, überaltert und reformunfähig. Das war die Lage, in der unüberhörbar der Ruf immer lauter wurde, ein Reformprogramm zu verabschieden. Das Ergebnis war die Agenda 2010. Und der Effekt war, dass man uns hinterher sagte, das war ja ein halber politischer Selbstmord, den ihr da vollzogen habt.
Schmidt: Richtig ist, dass die Agenda 2010 im Prinzip dringend notwendig war. Dass sie schlecht verkauft, nicht verteidigt und nicht erklärt worden ist, steht auf einem anderen Blatt. Richtig ist auch, dass eine Agenda 2010 niemals von der CDU/CSU erfunden und verkündet und durchgesetzt worden wäre. Und richtig ist auch, wenn Sie sagen, dass eine Qualitätssteigerung des deutschen Bildungs- und Ausbildungssystems dringend notwendig ist. Das aber ist ebenfalls eher der Sozialdemokratie zuzutrauen als der CDU/CSU.
Steinbrück: Aber da werden die Widerstände größer sein.
Schmidt: Da werden die Widerstände größer sein. Doch der künftige Lebensstandard hier im Zentrum Mitteleuropas hängt nicht zuletzt davon ab, dass die deutsche Wissenschaft und in ihrem Gefolge die deutschen Technologien aller Art weiterhin in der Spitze der Welt verbleiben. Sie gehören heute zwar zur Weltspitze, aber diese Zugehörigkeit gegenüber den neuen Konkurrenten aufrechtzuerhalten setzt voraus, dass wir den Zugang zu höherer Bildung wirklich für jedermann ermöglichen. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben.
Eine andere Aufgabe ist es, endlich zu begreifen, dass die alternde Gesellschaft uns zu einem weitgehenden Umbau des Arbeitsmarktes zwingen wird. Zu meiner Regierungszeit waren es durchschnittlich zwölf Jahre, in denen ein Rentner staatliche Rente bezog. Heute sind es im Durchschnitt 18,5 Jahre. Und es werden übermorgen 20 und 22 Jahre sein – Frauen mehr, Männer weniger. Und unten wachsen viel weniger junge Leute nach, welche die Renten finanzieren sollen. Das heißt, im Sinne der Agenda 2010 muss die Lebensarbeitszeit zwangsläufig ausgedehnt werden. Ich kann aber einen 65-jährigen Omnibusfahrer der Hamburger Hochbahn nicht mit 67 weiterhin Omnibus fahren lassen; das ist den Passagieren nicht zuzumuten und ihm selber auch nicht. Er muss im Alter von 50 oder 52 Jahren umgeschult werden auf einen anderen Beruf. Das ist bisher überhaupt nicht begriffen. Wir haben wunderbare Berufsschulen, die sind in ganz Europa vorbildlich. Die werden in diesem Umfange nicht mehr gebraucht, weil nicht mehr so viele junge Leute nachwachsen. Ein Teil dieser Berufsschulen muss umgebaut werden für die Aufgabe, erwachsene Menschen, die selbst schon erwachsene Kinder haben, umzuschulen auf Berufe, die man am Schreibtisch ausüben kann.
Es kommt ein Drittes hinzu. Als ich in die SPD eintrat – das war 1946 –, waren die meisten Wähler der Volkspartei SPD Arbeiter. Heutzutage sind von hundert erwerbstätig abhängigen Deutschen nur noch 24 Prozent Arbeiter, davon ein halbes Prozent in der Landwirtschaft. Und die anderen über 70 Prozent sind Angestellte. Arbeiter können nie im Leben befördert werden, es sei denn, einer hat Glück und wird gewählter Betriebsrat, oder ein anderer hat Glück und wird Werkmeister. Die anderen bleiben das, was sie als Beruf gelernt haben, sie bleiben Facharbeiter, Gießer, Dreher, oder sie bleiben »Ungelernte«. Anders die Angestellten, diese über 70 Prozent, die werden alle im Laufe ihres Lebens befördert. Sie haben eine gewisse Karriereerwartung, das schafft eine ganz andere Mentalität. Sie kommen auch nicht auf die Idee, ihre Vorgesetzten zu duzen, wie das in der Gießerei durchaus üblich war oder in der Stahlkocherei. Es ist eine andere Welt. Die Sozialdemokratie muss das begreifen. Und es fällt ihr schwer.
Steinbrück: Das sind jetzt drei ganz dicke Brocken, Helmut, und alle drei machen der Sozialdemokratie schwer zu schaffen. Nicht jeder kann ohne weiteres begreifen, dass diese drei Themen unmittelbar zusammenhängen und
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