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Zug um Zug

Zug um Zug

Titel: Zug um Zug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt / Peer Steinbrück
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gemeinsam angegangen werden müssen. Es geht um die Zukunft des Sozialstaats.
    Schmidt:   Ich sehe den Sozialstaat in einer langfristigen Perspektive. Die ersten Sozialversicherungszweige wurden unter Bismarck eingeführt, und zwar zu dem Zweck, den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie das Wasser abzugraben. Als eine der letzten Taten Bismarcks, kurz vor seiner Ablösung durch Wilhelm II., wurde die sogenannte Invaliditätsversicherung, das ist die heutige Rentenversicherung, eingeführt. Damals wurde ins Gesetz geschrieben: Die erste Rente wird gezahlt mit dem 70. Geburtstag. Mit dem 70. Geburtstag war die Masse der Arbeiter zwar längst tot, aber es gab Witwen, und die kriegten ein Witwengeld. Ein Vierteljahrhundert später, in der Mitte des Ersten Weltkrieges, 1916, wurde, um das deutsche Volk bei Kriegslaune zu halten, das Rentenalter von 70 runtergesetzt auf 65. Da ist es heute offiziell immer noch. Die Sozialdemokratie selber hat dann nach dem ersten Krieg die Arbeitslosenversicherung eingeführt, sie hat den Sozialstaat ausgebaut und vertieft und ihn auf finanzielle Beine gestellt. Ich sehe nicht, dass die Unterbrechung durch die zwölf Nazijahre eine Rolle spielte, wohl aber sehe ich deutlich, dass Adenauer diese Tradition 1957 wiederaufgenommen hat – ich sage noch mal: gegen den Willen von Erhard und anderen ordoliberalen Bannerträgern.
    Es bleibt dabei, dass ohne die sozialdemokratischen und andere linksdemokratische Parteien in Europa der Sozialstaat in Gefahr gerät durch die Überalterung unserer Gesellschaft. Infolgedessen ist es die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der sozialdemokratischen Parteien und der linken Volksparteien, die Anpassung des Arbeitsmarkts und die Anpassung der Sozialversicherung an die sich ändernde Gesellschaftsstruktur zustande zu bringen, aber bitte dabei nicht dem Irrtum zu verfallen, dass dies schon die ganze Politik ausmacht. Die traditionelle Konzentration der linksdemokratischen Volksparteien auf die soziale Sicherung hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass sie die anderen Felder nicht mit der gleichen Sorgfalt beackert haben. Das muss anders werden.
    Steinbrück:   Da haben wir ein weiteres Beispiel für das reformpolitische Paradoxon, dass erkennbar nur eine sozialdemokratische oder linksdemokratische Kraft in der Lage ist, die Sozialsysteme an die Demographie anzupassen. Nur Sozialdemokraten können das, denn wenn es von rechts kommt, ist es endlosen Widerständen und dem Verdacht ausgesetzt, der Sozialstaat solle der Abrissbirne anheimfallen. Nur eine mutige Sozialdemokratie ist in der Lage, die Finanzierungsgrundlagen des Sozialstaates dem demographischen und ökonomischen Wandel anzupassen und damit seine Funktionsfähigkeit zu erhalten. Nur eine Sozialdemokratie wird erkennbar erfolgreich darin sein können, zum Beispiel das Renteneintrittsalter auf 67 zu erhöhen, weil sie die Gegenwehr aus dem Bereich der organisierten Arbeitnehmerschaft und weit darüber hinaus auffängt.
    Deshalb habe ich es für falsch gehalten, dass nach der Einführung des Rentenalters mit 67 durch die große Koalition die SPD-Führung das Ganze wieder in Frage stellte und dabei übrigens den fehlerhaften Eindruck vermittelte, als ob das Renteneintrittsalter übermorgen um 17.35 Uhr auf 67 Jahre angehoben werden soll – in Wirklichkeit geschieht das stufenweise bis 2029. Ich komme zwar zu demselben Ergebnis: Wenn keine Jobs für Leute mit 66 oder 67 da sind, wird das höhere Renteneintrittsalter faktisch zu einer Rentenkürzung führen – diese Analyse auch des Parteivorsitzenden der SPD ist richtig. Aber die Antwort kann nicht eine Suspendierung der Erhöhung des Renteneintrittsalters sein, sondern die Antwort muss lauten, dass wir auch ältere Arbeitnehmer befähigen müssen, in diesem Lebensabschnitt einen Job wahrnehmen zu können. Sie haben das Stichwort bereits genannt: eventuell eine Berufsschule im Alter.
    Im Sommer 2010 wurde ich von Sigmar Gabriel gebeten, auf dem Parteitag der SPD im September zu reden. Ich war sehr zurückhaltend, denn ich wäre um einige unbequeme Bemerkungen nicht herumgekommen. Nach meinem Rücktritt als stellvertretender Parteivorsitzender nach der Bundestagswahl im September 2009 hätte mein Auftritt auch missverstanden werden können nach dem Motto: Was will der denn? Aber Gabriel hat mich weiter bearbeitet, und so habe ich auf dem Parteitag geredet. Dort habe ich absichtsvoll kritisch gesagt, dass sich die SPD – in der damaligen

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