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Zug um Zug

Zug um Zug

Titel: Zug um Zug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt / Peer Steinbrück
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dialektische Materialismus, der ja eine Art allumfassende geschichtliche Wahrnehmungsdeutung für sich in Anspruch nimmt.
    Ich komme noch mal auf Habermas. Sie sagten, dass Sie seine öffentlichen Stellungnahmen zu politischen Themen mit Interesse verfolgen. Ich will da gar nicht kokettieren, aber auch ich habe diese Artikel in der Zeit oder auch in der FAZ oder früher in der Frankfurter Rundschau mit Aufmerksamkeit gelesen, ohne ihnen immer zuzustimmen. Ich glaube jedoch nicht, dass sich die Berliner politische Klasse heute von solchen Beiträgen nachhaltig beeindrucken oder gar beeinflussen lässt. Andererseits vermisse ich einen stärkeren Auftritt von Leuten, die bei den Amerikanern und Engländern Public Intellectuals heißen. Ich würde mir wünschen, dass Intellektuelle insgesamt – ob Schriftsteller, Künstler, Historiker, Professoren – sich sehr viel häufiger öffentlich einmischen und dass es darüber auch zu intellektuell streitigen Debatten kommt: Wo geht diese Gesellschaft hin? Wo liegen die Probleme? Wie ist es um die innere Friedfertigkeit der Gesellschaft bestellt? Nehmen Eliten ihre Vorbildfunktion wahr? Ich würde mir auch wünschen, dass aktuelle gesellschaftliche Probleme sich sehr viel stärker in Theaterstücken wiederfinden, aber meistens gibt es im Theater nur Beziehungsprobleme.
    Schmidt:   Das ist ein wunderschönes Stichwort: Public Intellectual. Es gab mal eine Zeit, wo die Public Intellectuals auch in Deutschland eine sehr viel größere Rolle gespielt haben –
    Steinbrück:   In der zweiten Hälfte der sechziger und in den frühen siebziger Jahren –
    Schmidt:   Eine noch viel größere Rolle in den zwanziger Jahren. Das reichte vom Fackel -Kraus auf der einen Seite bis zu Thomas Mann auf der anderen Seite.
    Steinbrück:   Aber ein ebenso spannungsreiches wie spannendes intellektuelles Klima, das in einem scharfen Kontrast zur Biederkeit der jungen Bundesrepublik stand, gab es auch in den sechziger Jahren. Ich denke an Beiträge von Eugen Kogon, Hannah Arendt, Axel Eggebrecht, Joachim Fest oder auch Johannes Gross, an den Journalismus von Hans Zehrer bis Rudolf Augstein und Gräfin Dönhoff. Ich erinnere an die Gruppe 47, aus der mit Heinrich Böll und Günter Grass zwei Nobelpreisträger für Literatur hervorgegangen sind, die eine enorme politische Ausstrahlung entwickelten. Die Frankfurter Schule mit Adorno und Herbert Marcuse war ein Stachel im Fleisch der Republik, jedenfalls in dem Teil der Republik, der noch immer der Losung folgte: »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.«
    Schmidt:   Es waren nicht nur die ruhigen Bürger und Kleinbürger, sondern auch politisch denkende Menschen – und keinesfalls wenige! –, die die Rückkehr der Gewalt auf die Straßen der Bundesrepublik mit Entsetzen, mit Ablehnung betrachteten. Es gab auch einige – dazu gehörte beispielsweise ich –, welche die Entwicklung bis hin zum Mord und bis hin zur Rote-Armee-Fraktion vorausgeahnt haben. Ich rede jetzt allerdings nicht von 1968, sondern von 1970/71. Ich weiß noch wie heute, wie Ulrike Meinhof, die ich kannte, 1970 im Spiegel schrieb: »Wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch … Wir haben nicht mit ihm zu reden … Und natürlich kann geschossen werden.«
    Steinbrück:   Schreckliche Sätze! Aber ich würde mich davor hüten, die Philosophie der Frankfurter Schule als Wegbereiter des Terrorismus zu bezeichnen. Lassen Sie mich kurz ausführen, wie sich das intellektuelle Klima der sechziger Jahre nach meiner Erinnerung darstellte. Der originelle Sebastian Haffner provozierte und wechselte Positionen. Im Fernsehen brillierten die Moderatoren von Panorama wie beispielsweise Peter Merseburger, und Günter Gaus schuf mit Zur Person die bis heute beste Dialogsendung im Fernsehen. Die Auseinandersetzungen im Zuge der Auschwitz-Prozesse, über den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetzgebung und später die Ostverträge prägten die innenpolitische Atmosphäre. Gelesen habe ich damals unter anderem Der SS-Staat von Eugen Kogon, die Erinnerungen von Axel Eggebrecht, Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft , das Theaterstück von Peter Weiss Die Ermittlung oder Arthur Koestlers Der Yogi und der Kommissar .
    Schmidt:   Sicherlich hat auch Hochhuths Stellvertreter für Sie eine große Rolle gespielt.
    Steinbrück:   Das stimmt. Und Jahrzehnte später war ich von einer Verfilmung dieses Stückes schwer beeindruckt. Den SS-Mann

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