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Zug um Zug

Zug um Zug

Titel: Zug um Zug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt / Peer Steinbrück
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Gerstein spielt nach meiner Erinnerung der glänzende Schauspieler Ulrich Tukur. – Demonstriert habe ich in den Sechzigern gegen den Vietnamkrieg, für Israel im Sechstagekrieg 1967 und dann gegen die Hochschulgesetzgebung in Schleswig-Holstein. Ich erwähne das alles nur, um anzudeuten, welche Bandbreite und Tiefenschärfe die intellektuelle Diskussion in den sechziger Jahren in unserem Land hatte.
    Schmidt:   Trotzdem sind die Debatten dieser Jahre nicht zu vergleichen mit dem geistigen Klima der zwanziger Jahre in Berlin.
    Steinbrück:   Wir waren bei der Frage stehengeblieben, warum wir heute solche öffentlichen Debatten nicht haben. Ich nähere mich mal auf einem Umweg. Als ich 1981 an die Ständige Vertretung nach Ost-Berlin ging, hatte ich – so lautete das hochgestochene Wort – Residenzpflicht. Man musste im Osten wohnen, bekam aber einen Diplomatenausweis und konnte an bestimmten Übergängen leicht nach West-Berlin wechseln. Das Erste, was ich mir besorgte, war ein alter Baedeker der zwanziger Jahre. Weil ich dieses Berlin entdecken wollte, nicht nur Ost, nicht nur West, sondern das ganze Berlin, das Berlin der zwanziger Jahre.
    Schmidt:   War der Baedeker aus der Zeit, wo Wilmersdorf und Charlottenburg und Köpenick schon nach Berlin eingemeindet waren?
    Steinbrück:   Ja. Übrigens sammle ich inzwischen alte Baedeker und habe zwei über Berlin, einen von 1910 und einen von 1927. Mit diesem Baedeker bin ich alte Wege abgegangen, und was ist da passiert? Ich stellte fest, dass Politik, Presse, Theater, Kabarett, Kunst und Kultur im weitesten Sinne viel stärker zusammengebunden waren in diesem Berlin und der Austausch sehr viel stärker gewesen ist, als ich es heute wahrnehme. Allein schon aufgrund der räumlichen Nähe muss es eine viel höhere Dichte an Begegnungen gegeben haben zwischen diesen verschiedenen Sphären. Denken Sie nur an Max Liebermann, der wohnte direkt am Brandenburger Tor. Sein Schwiegersohn, Kurt Riezler, war persönlicher Referent des Reichskanzlers Bethmann Hollweg. Die Riezler-Tagebücher waren dann Anfang der sechziger Jahre eine heftig umkämpfte Hauptquelle in der Fischer-Kontroverse um die deutsche Kriegsschuldfrage 1914.
    Schmidt:   Dies war der erste Historikerstreit, ausgelöst von Fritz Fischer.
    Steinbrück:   Griff nach der Weltmacht war der Titel des Buches von Fischer. Das Entsetzen, das seine Enthüllungen über die deutsche Kriegszielpolitik auslöste, war gewaltig. Ich erinnere mich, dass der damalige Bundestagspräsident Gerstenmaier in die Debatte eingriff, um Deutschland freizusprechen von jeder Verantwortung für den Ersten Weltkrieg. Das müssen Sie eigentlich mitgekriegt haben als Parlamentarier.
    Schmidt:   Herr Gerstenmaier hat nicht nur einmal seine Kompetenz überschätzt.
    Steinbrück:   Wir haben dann den zweiten Historikerstreit gehabt über die Einmaligkeit der Verbrechen von Auschwitz, das war nach einer Veröffentlichung des Historikers Ernst Nolte. Und dann gab es eine dritte, allerdings weniger heftige Auseinandersetzung über die deutsche Wiedervereinigung. Einer der Skeptiker war nach meiner Erinnerung kein Geringerer als Günter Grass.
    Schmidt:   Ich habe damals versucht, Christa Wolf in den Senat der Nationalstiftung hineinzuschwatzen. Mir war ihre Bedeutung als deutsche Schriftstellerin absolut gewärtig, und ich meinte, so jemand sollte dazugehören. Ist mir nicht gelungen, weiß der Kuckuck, welche Gründe sie hatte. Sie wollte das nicht. – Deshalb habe ich vorhin auf Habermas verwiesen. In meinen Augen ist er einer der wenigen Intellektuellen, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind.
    Steinbrück:   Die Frage ist ja, warum dieser universitäre, akademische oder auch künstlerische und literarische Bereich sich so wenig einmischt. Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger habe ich eine Antwort. Vielleicht scheuen manche davor zurück, sich zu exponieren, weil sie dabei in publizistische Frontstellungen geraten, deren Folgen sie nicht überblicken. Aber vielleicht täusche ich mich auch.
    Schmidt:   Ich fürchte, dass es einen banalen Grund gibt: Fernsehen und Internet. Es wird weniger gelesen heutzutage als zu der Zeit, wo es das Fernsehen noch nicht gab. Natürlich haben die Skatspieler damals auch Skat gespielt, statt zu lesen; aber der des Lesens fähige, der lesewillige Teil der Gesellschaft hat eben nicht in die Glotze geguckt, sondern hat wirklich gelesen. Und deswegen hatten

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