Zug um Zug
waren.
Steinbrück: Eine Ausnahme ist natürlich Churchill. Dabei denke ich nicht einmal an seine Geschichte des Zweiten Weltkrieges, sondern an seine Darstellung des Ersten Weltkrieges, an seine Geschichte der englischsprachigen Völker und vor allem an seine Marlborough-Biographie. Mindestens in der Marlborough-Biographie schreibt er ja nicht über sich selbst, sondern »nur« über einen seiner Vorfahren. Literarisch war er ebenso hochgradig begabt wie als Politiker. Übrigens auch als Maler alles andere als ein bloßer Amateur. Dann wird man natürlich noch Henry Kissinger erwähnen müssen –
Schmidt: Henry Kissinger hatte im Vergleich zu Churchill den großen Vorzug: Er brauchte nie gewählt zu werden. Er war zwar politisch tätig und auch in höchstem Maße einflussreich, aber ein Politiker in dem Sinne, wie wir hier von Politikern reden, war er nicht.
Steinbrück: Trotzdem, sein Buch Das Gleichgewicht der Großmächte , eine Geschichte der europäischen Diplomatie nach dem Wiener Kongress, hat mich fasziniert. Am liebsten wäre er in die Haut von Metternich geschlüpft, vielleicht auch in die von Talleyrand – wegen dessen Liaison mit seiner angeheirateten Nichte Dorothée.
* * *
Schmidt: Mir geht noch einmal das Thema Karriere durch den Kopf. Ein Politiker will unbedingt an der Spitze stehen, so lautet eine landläufige, aber irrige Meinung. Da muss ich Ihnen aus meinem eigenen Leben mal eine Geschichte erzählen. 1968 wurde ich 50 Jahre alt. Seit 1953 – damals war ich 35 – war ich de facto Berufspolitiker, ich hatte keine Berufsausbildung, und ich war ohne Pensionsansprüche. Ich sagte mir, ich werde ja noch ein paar Jahre leben, aber wovon soll ich denn leben? Die heutigen Parlamentarierpensionen sind ja erst langsam im Laufe der Jahrzehnte aufgebaut worden. Das heißt, mit fünfzig war ich entschlossen, aus der Politik auszusteigen. Und ein Jahr später bin ich dann überredet worden und bin Verteidigungsminister geworden. Und drei Jahre später war ich fest entschlossen, nun wirklich auszuscheiden. Aber dann schied Karl Schiller aus, und Willy Brandt bekniete mich, als Minister für Wirtschaft und Finanzen an Schillers Stelle zu treten. Aus Loyalität gegenüber Brandt und aus Loyalität gegenüber meiner Partei habe ich das akzeptiert.
Und dann gab es ein Gespräch zwischen Brandt und Schmidt im Frühsommer 1972, und Brandt war dankbar und sagte: Du weißt ja, wir wollen im Herbst vorgezogene Wahlen herbeiführen. – Ja, ja, ich weiß das. – Und dann machen wir beide anschließend zusammen die nächsten vier Jahre. – Da habe ich gesagt: Nein, Willy, nicht die nächsten vier Jahre, nur die nächsten vier Monate bis zum Wahltag, ich will raus. – Und als der Wahltag vorbei war – es gab einen wunderbaren Wahlerfolg der SPD –, bin ich wieder in die Pflicht genommen worden und habe mich in die Pflicht nehmen lassen. Ich wollte nicht nach oben, ich wollte auch nicht anderthalb Jahre später Regierungschef werden. Das glaubt zwar keiner, aber es ist wahr. Ich bin da reingerutscht. Natürlich hat es Leute gegeben, die gern Bundeskanzler werden wollten. Ich wollte das nicht. Ich hatte Angst – nein, Angst ist der falsche Ausdruck. Ich hatte ganz große Hemmungen vor der Verantwortung.
Steinbrück: Das haben Sie sich aber nicht anmerken lassen. Ich finde das Bild vom Reinrutschen gar nicht so verkehrt. Ich benutze das Bild vom Trichter: In diesem Trichter rutscht man immer weiter, bis man dann eines Tages an einer Position ist, wo man sich entscheiden muss. Bei einem kritischen Blick auf meinen bisherigen politischen Werdegang muss ich sagen, dass es keine typische Politikerkarriere gewesen ist. Ich habe mich nicht hochgedient innerhalb der SPD, sondern bin in der Ministerialverwaltung gelandet. Irgendwann mit Anfang vierzig bin ich, zu meinem eigenen Erstaunen, Staatssekretär geworden, und zu meinem noch größeren Erstaunen bin ich drei Jahre später Wirtschaftsminister eines kleinen Bundeslandes geworden. Von da an geriet ich immer tiefer in diesen Trichter. Ich wurde Wirtschaftsminister eines großen Bundeslandes, dann wurde ich sein Finanzminister, dann sein Ministerpräsident, dann fiel ich auf die Nase bei einer Landtagswahl und war eigentlich draußen. Und sechs Monate später war ich wieder drin als Bundesminister.
Schmidt: Jedenfalls haben Sie während dieses Werdegangs nicht angestrebt, Bundesfinanzminister zu werden und möglicherweise
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