Zugriff
Klienten beriet, bei einem Wechsel die Tür geöffnet blieb. Das war gegen 15 Uhr, und niemandem schien bis dahin aufgefallen zu sein, dass Jerko B. fehlte.
Der drang jetzt in den kleinen Raum ein, hielt dem entsetzten 36-jährigen Juristen ein beidseitig geschliffenes Tischmesser an die Kehle und fügte ihm, weil er sich zu wehren versuchte, Schnittverletzungen am Hals und an beiden Händen zu. Dann fesselte er seinem Opfer mit einer Kordel die Hände auf dem Rücken und band ihm einen Sprengsatz um den Hals. Der Albaner, Absolvent einer Technikerhochschule, hatte ihn aus Bestandteilen eines Radios und aus Zündhölzern selbst gebaut.
Als wenig später ein Vollzugsbeamter kam, drückte Jerko B. ihm einen Zettel in die Hände. » Das ist meine Geisel. Die Bombe explodiert nicht, solange ich die Zündvorrichtung festhalten kann. Lässt der Druck nach, dann ist der Anwalt tot. Nur ich kann die Explosion verhindern. Sollte ich getötet werden, stirbt er auch. Ich werde in 20 Minuten die JVA verlassen. Wenn ich mir sicher bin, dass mich niemand verfolgt oder observiert, lasse ich den Rechtsanwalt frei.« Einen Zettel mit gleichlautender Botschaft sollte der Mann an irgendeinen anwesenden Anwalt übergeben. Warum, das erklärte Jerko B. nicht.
Etwa eine Dreiviertelstunde später wurden wir alarmiert. Ich erinnere mich gut, dass ich gerade an meinem Schreibtisch einen Bericht über unsere Erfahrungen mit Schutzausstattung verfasste, während zwei Gruppen vom Sport kamen und unter die Duschen wollten, als wir über die Lautsprecheranlage die Stimme unseres Kommandoführers hörten. » Geiselnahme in der JVA Stadelheim. Sofort aufrüsten und einsatzklar melden. Fahrzeuge wie üblich rückseitig des Dienstgebäudes aufstellen. Wir fahren geschlossen zum Tatort.«
Angesichts der besonderen Gefährlichkeit der Lage wären wir normalerweise in voller Einsatzstärke ausgerückt, was aber nicht möglich war, da viele sich im Urlaub befanden. Immerhin kamen wir jedoch auf etwas mehr als die Hälfte. Wer bloß zu Hause war, wurde nachalarmiert. 20 Minuten später waren wir dort, wurden bereits dringlich erwartet und zur Abwechslung mal ohne große Rückfragen hereingelassen. Normalerweise ist das ein endloses Prozedere: Schleuse auf, Kontrolle, Schleuse zu, nächste Schleuse auf, Einfahrt, Schleuse zu. Gemeinsam mit dem Chef war ich als sein Stellvertreter für den Zugriff verantwortlich, und wir nahmen deshalb sofort Verbindung mit dem Gesamteinsatzleiter auf, der vom Gefängnisdirektor einen eigenen Raum zugewiesenen bekommen hatte.
Natürlich sollte wie immer bei Geiselnahmen erst einmal mit dem Täter verhandelt werden, um ihn vielleicht zur Aufgabe zu überreden. Normalerweise Aufgabe der sogenannten Verhandlungsgruppe, die sich aus besonders redegewandten und psychologisch geschulten Polizisten aus den unterschiedlichsten Dienststellen zusammensetzte. Sie führten nicht nur die Gespräche mit dem Täter und werteten diese aus, sondern sie verstanden sich auch auf Hinhalte- und Zermürbungstaktiken. Weil aber bislang weder diese Kollegen noch Polizeipsychologen eingetroffen waren, griffen wir auf zwei Justizangestellte zurück, die einen persönlichen Bezug zu Jerko B. hatten.
Während sie mit ihm vom Besuchergang aus zu reden versuchten, bereitete ich vorsorglich alles für einen Notzugriff vor und ließ meine Leute über den Häftlingsgang in eine benachbarte Besucherzelle schleusen. Wegen der Bombendrohung hatten sie neben den üblichen Ausrüstungsgegenständen einen Feuerlöscher dabei. Zum Glück verlief alles ohne Probleme: Der Albaner schien unseren Aufmarsch nicht zu bemerken. Ich selbst bezog mit meinen Mitarbeitern in einem Raum Stellung, von dem aus man durch eine Panzerverglasung den Besuchergang beobachten konnte. Einschließlich der bei unserem Eintreffen bereits geöffneten Tür zu Zelle 16. Zusammen mit den anderen Führungskräften des Spezialeinsatzkommandos arbeiteten wir akribisch auf den Zugriff hin. Welche Möglichkeiten boten sich an?
Die erste Option wäre, den Täter in der Zelle zu überwältigen, was allerdings in Anbetracht der Sprengladung problematisch schien. Eine weitere bestünde in einem vorgetäuschten freien Abzug mit seiner Geisel, bei dem der Zugriff auf dem Weg durch das Gefängnis erfolgen müsste. Als letzte Möglichkeit zogen wir den Einsatz von Präzisionsschützen in Betracht – den » finalen Rettungsschuss« also, der allerdings vom Einsatzleiter freigegeben werden musste.
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