Zugriff
offensichtlich war bei den Kollegen eine Art kollektives Jagdfieber ausgebrochen und das sonst funktionierende Prinzip von Befehl und Gehorsam außer Kraft gesetzt worden. Selbst die Intervention des Polizeiführers, der inzwischen die Gesamtleitung des Einsatzes übernommen hatte, blieb wirkungslos, und die wilde Jagd ging noch fast ein Stunde weiter.
Erst als er selbst mit seinem Wagen auftauchte und die Verfolgung in kalkulierbare Bahnen zu lenken versuchte, blieben die Zivilstreifen zurück. Und wir schlossen endlich mit drei Einsatzfahrzeugen zu dem Fluchtfahrzeug auf und wechselten uns in Position A ab. Wer Schwabing kennt, kann nachvollziehen, was das bedeutete. Schließlich gibt es dort mehr schmale Straßen als breite Boulevards und dazu einen höllischen Verkehr.
Rote Ampeln und Vorfahrtsregeln waren noch unser geringstes Problem, und es interessierte uns nicht, wenn jedes unvorschriftsmäßige Überqueren einer Kreuzung ein lautes Hupkonzert zur Folge hatte. Die anderen Verkehrsteilnehmer ahnten schließlich nicht, welches Drama sich gerade vor ihren Augen abspielte. Wie sollten sie auch, denn schließlich verzichteten wir auf Blaulicht und Martinshorn und waren in einem völlig zivil aussehenden Wagen der gehobenen Klasse unterwegs. Die anderen haben uns bestimmt für Verkehrsrowdys im fortgeschrittenen Alter gehalten. Aber anders war es nicht machbar, wenn wir den Anschluss nicht verlieren wollten. Und mit Signalen zu fahren, das war ebenfalls unmöglich, weil wir uns bei der Verfolgung nicht als Polizei outen wollten. Sonst hätten wir ja gleich einen Streifenwagen nehmen können.
Jedenfalls war es eine endlose Odyssee, die kein Ende zu nehmen schien. Plötzlich eine Kursänderung. Der BMW verließ das Schwabinger Straßengewirr, hielt auf das Olympiagelände zu und fuhr von dort Richtung Autobahn und schließlich auf die Ostumgehung. In diesem Moment wünschte der Einsatzleiter eine persönliche Unterredung mit mir in seiner mobilen Befehlszentrale, einem untermotorisierten umgebauten Kastenwagen mit allen möglichen Ausrüstungsgegenständen. Das durfte doch nicht wahr sein, dachte ich. Nur um das weitere Vorgehen noch einmal abzusprechen, sollten wir den BMW entkommen lassen? Er selbst hatte mit seiner lahmen Kiste ohnehin keine Chance bei der Verfolgung. Warum ließ er mir da nicht freie Hand? Also lehnte ich eine Besprechung ab, forderte stattdessen von ihm die Freigabe für den Zugriff.
Ein Wort gab das andere. » Bleiben Sie stehen, ich will mit Ihnen reden!« – » Geht nicht, sonst verlieren wir das Fluchtfahrzeug!« – » Halten Sie sofort an!« – »Ich brauche von Ihnen die Freigabe für den Zugriff!«
So ging es hin und her, doch keiner gab nach. Inzwischen hatte der Arzt, vermutlich auf Befehl der Geiselnehmerin, das Tempo erhöht, und während wir dem BMW weiterhin folgten, besprach ich auf unserem internen Funkkanal mit meinen Leuten den Zugriff. Wir wollten es mit einem Ablenkungsmanöver versuchen. Falls das Fluchtfahrzeug irgendwo zum Stehen kam, sollte der Wagen auf Position A die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, damit die Besatzungen der beiden hinteren Wagen unbemerkt zugreifen konnten. Ganz ohne Risiko war das nicht. Schließlich hatten wir es mit einer bewaffneten und vor allem psychisch offenbar schwer gestörten Geiselnehmerin zu tun. Trotzdem versprachen wir uns Erfolg von diesem Vorgehen.
Erneut bat ich um die Freigabe des Zugriffs. Funkstille. Dann, nach einigen Minuten, die erboste Stimme des Einsatzleiters: » Zugriff nur bei günstiger Gelegenheit unter Ausschluss einer Gefährdung der Geisel!« Der übliche Spruch. Wenngleich das leichter gesagt als getan war, wiederholte ich kommentarlos die Anweisung. Der BMW näherte sich jetzt der Ausfahrt Riem. Hoffentlich fuhr er raus, dachte ich, zurück auf normale Straßen mit Kreuzungen und Ampeln. Außerdem musste man hier am Stadtrand nicht mit sonderlich lebhaftem Verkehr rechnen. Ideal eigentlich für einen Zugriff. Unsere stummen Gebete wurden erhört. Der BMW verringerte das Tempo, setzte den rechten Blinker. Offenbar wollte er die Autobahn verlassen.
» Zugriff nach eigenem Ermessen«, funkte ich mit angespannter Stimme meinen Leuten in den beiden vor mir fahrenden Wagen durch. Wir selbst beschleunigten, um näher heranzukommen, und schon bot sich eine Möglichkeit. Unmittelbar nach der Ausfahrt schaltete die Ampel gerade auf Rot, und der BMW hielt auf der linken Abbiegespur an. Das war unsere Chance, dachte ich
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