Zugriff
Wie immer neigten wir zu einer Lösung vor Ort. Erfahrungsgemäß war es nämlich komplizierter, eine Geiselnahme während einer Autofahrt oder einer Flucht zu Fuß zu beenden. Trotzdem durften wir diese Variante nicht ganz außer Acht lassen, und so wurde das Mobile Einsatzkommando ( MEK ) beauftragt, eine Observierung des Täters vorzubereiten, falls dieser es durchsetzte, mit seiner Geisel das Gefängnis verlassen zu dürfen. Den Zugriff würden dann meine Leute durchführen.
Wir wiesen die in Zelle 14 wartenden Notzugriffskräfte an, nur im Fall einer Explosion auf eigene Faust einzugreifen, und beauftragten eine Einsatzhundertschaft, außen abzusperren. Um eventuell notwendige Straßenblockaden kümmerte sich die Polizeiinspektion. Die Kriminalpolizei war inzwischen ebenso vor Ort wie die Verhandlungsgruppe und die Technische Sondergruppe ( TSG ), die sich um eine Analyse des Sprengsatzes bemühte, allein aufgrund von vagen Angaben der Justizleute. Darüber hinaus standen ein Verbindungsbeamter der JVA und der Pressesprecher der Polizei bereit. Ein beachtliches Aufgebot also.
Bislang waren die Gespräche mit dem Geiselnehmer ergebnislos verlaufen und wir entsprechend froh, als die Profis von der Verhandlungsgruppe eintrafen. Vielleicht brachten sie ja das scheinbar Unmögliche zustande, Jerko B. zur Aufgabe zu überreden. Inzwischen war es 17 Uhr. Vor der geöffneten Tür zu Zelle 16 stehend versuchten sie immer wieder mit ihm ins Gespräch zu kommen, bissen jedoch auf Granit. Der Albaner beharrte auf seinen Forderungen und drohte mit der Zündung der Bombe.
Mehr Erfolg schien der Spezialist der TSG mit seinen Bemühungen zu haben. Man hatte ihn mit der Verhandlungsgruppe in den Besuchergang geschleust, damit er den Sprengsatz selbst in Augenschein nehmen konnte. Nach längerer Beobachtung gelangte er zu der Ansicht, dass der Täter bluffte, hielt es für ausgeschlossen, dass B. stundenlang ständig den Zündmechanismus drücken konnte, ohne einmal loszulassen. Außerdem hatte er schon zweimal die Druckhand gewechselt. Der TSG -Mann erklärte deshalb, es könne sich eigentlich nur um eine Zündvorrichtung handeln, die gezielt ausgelöst werden müsse. Was unsere Planung für den Zugriff natürlich von Grund auf änderte.
Dann wurde es noch komplizierter, denn Jerko B. sprach plötzlich von einer Ruhestromanlage. Wir durften ihn nicht unterschätzen – schließlich war er kein Hobbybastler, sondern vom Fach. So viel kristallisierte sich langsam über die Beschaffenheit der Bombe heraus: Eine Kugelschreibermine verband den Stromkreis, und zu einer Explosion würde es in dem Moment kommen, wenn die Batterieleistung rapide abfiel oder durch Loslassen des Verbindungsstifts ein Stromkontakt geschlossen oder das Verbindungskabel zwischen Zünder und Bombe abgerissen würde. All das konnte jederzeit leicht passieren, weshalb es uns nicht ratsam schien, noch länger zu warten. Das Leben der Geisel war in akuter Gefahr. In dieser Situation gab es nur eine Möglichkeit: den Zugriff in der Zelle.
Aber wie? Wir sondierten erneut die Lage. Auf dem Gang vor dem Besucherzimmer, in dem sich nach wie vor Täter und Geisel aufhielten, herrschte ein reges Hin und Her. Zwei Justizbeamte, ein Psychologe, ein Experte der TSG und ein für den Zugriff vorgesehener SEK -Mann schauten neugierig in den Raum, ohne dass B. sie daran hinderte. Er schien sich durch die Bombe um den Hals seiner Geisel absolut sicher zu fühlen und seine Überlegenheit zu genießen. Ich beobachtete durch das Panzerglas das Geschehen und war alles andere als optimistisch gestimmt. Ehrlich gesagt war mir wirklich mulmig zumute. Wie sollte das funktionieren? Was passierte, wenn der Sprengsatz wirklich hochging? Gab es dann Verletzte oder gar Tote? Welche anderen Möglichkeiten des Zugriffs gab es noch?
Fieberhaft suchte ich nach alternativen Lösungen, nach Auswegen aus dem Dilemma, in dem wir uns befanden. Die Zeit drängte. Allein die Tatsache, dass die Batterien schwächer wurden, zwang uns zum Handeln. Wir standen gewaltig unter Druck. Wir mussten etwas unternehmen, wir brauchten einen Plan, mit dem wir den Geiselnehmer überrumpeln konnten.
Und so sah er dann aus: Während die Verhandlungsgruppe den Albaner abzulenken versuchte, sollte ein nahkampferprobter SEK -Mann ohne Kampfausrüstung sich unauffällig zu der Personengruppe vor der Besucherzelle gesellen, rasch in den kleinen Raum springen und die Faust des Täters so umschließen, dass sich der
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