Zuhause ist ueberall
bleibt in der Minderheit. Die Verhandlungen gehen zu Ende, schon melden die Agenturen: Streik beendet. Man verlässt den Saal. Die Arbeiter, die draußen im Hof warten, fragen Wałęsa: Und du, wie hast du abgestimmt? Dieser sagt, er sei fürs Weiterstreiken gewesen, aber er stehe natürlich hinter dem Mehrheitsbeschluss. Darauf erklären die Arbeiter: Das genügt uns, alles wieder zurück, wir streiken weiter.
Jetzt trifft eine Regierungsdelegation in Danzig ein, um mit den Besetzern zu verhandeln. Die Verhandlungsteams sitzen in einem Clubraum, der durch eine Glastür vom Saal getrennt ist. Wir Reporter drücken uns die Nasen platt an der Tür. Wir können jede Phase dieser wahrhaft historischen Verhandlungen live mitverfolgen. Da sitzen auf der einen Seite die Regierungsleute, angeführt vom Vizepremier Mieczysław Jagielski, einem kühlen, nicht unsympathischen Mann im korrekten Anzug, begleitet von seinen Experten. Und auf der anderen Seite Lesezk Wałęsa im verschwitzten Ruderleiberl mit seinen Experten, der Blüte der polnischen Intelligenzija. Tadeusz Mazowiecki ist da, der melancholische Aristokrat, die ewige Zigarette im Mundwinkel. Bronisław Geremek, der Historiker, Spezialist für europäische Geschichte des Mittelalters, verbindlich, vielsprachig, umfassend gebildet. Und der Ökonom Tadeusz Kowalik mit seinem Gesicht eines altgewordenen Studenten, der mir einmal gesagt hat: Ich bin der letzte Marxist in Polen. Das Bündnis zwischen Arbeitern und Intellektuellen, in vielen früheren polnischen Aufständen immer angestrebt, fast nie erreicht – hier ist es plötzlich. Das Abkommen, das am Schluss unterschrieben wird, so kühn erkämpft wie klug und zäh verhandelt, ist eine Frucht dieses Bündnisses.«
Mazowiecki wird später der erste nichtkommunistische Ministerpräsident in Polen. Ich kenne ihn vom Papstbesuch her. Er ist der Präsident des Klubs der katholischen Intelligenz und Mitglied der katholischen Bewegung »Znak« (Zeichen), für die er Abgeordneter im Sejm war. Er und seine Freunde hatten, als der Streik anfing, eine Tasche mit den nötigsten Sachen gepackt und waren nach Danzig gefahren. Sie suchten Wałęsa auf und stellten sich ihm, falls er das wolle, als Berater zur Verfügung. Etwas misstrauisch fragte der Elektromonteur, wie lange die Herren aus Warschau denn zu bleiben gedächten. Und bekam die Antwort: bis zum Ende.
»Am Sonntag gibt es eine feierliche Messe auf dem Werksgelände. Der Pfarrer der benachbarten Kirche hält sie, Tausende Werftarbeiter knien nieder und empfangen die Kommunion. Die Fürbitten spricht Leszek Wałęsa, gefolgt jeweils von einem Ave Maria. Ein Ave für die Streikenden, eins für die Kollegen in den anderen Betrieben, eins für die Solidarität.
An den folgenden Tagen werden improvisierte Beichtstühle aufgestellt, die Leute stehen Schlange davor. Eine der Streikforderungen lautet: Im polnischen Radio muss ab jetzt die Sonntagsmesse übertragen werden. Sind die Danziger Arbeiter so fromm? Eigentlich nein, sagt später der Bischof. Was da ablief, sei ›ein Wunder Gottes‹ gewesen.
Als aufgrund des Streiks die halbe Regierung zurückgetreten ist und Parteichef Edward Gierek im Radio gesprochen hat, wird die Internationale gespielt. 500 Delegierte im Saal springen von den Sesseln auf, erheben die Faust und singen wie aus einem Munde, die Internationale übertönend, die polnische Nationalhymne. Ich muss an Franz denken. Das hätte ihn getroffen.
So gut wie alle Punkte des Abkommens sind mittlerweile unter Dach und Fach. Die Regierungsvertreter drängen auf das Kommando ›Streik aus‹. Die Russen drohen bereits unverblümt mit Einmarsch – da beweist Leszek Wałęsa wiederum seine begnadete Sturheit und erklärt seelenruhig: Es ist erst Freitag. Wir haben noch viel Zeit. Erst buchstäblich in letzter Minute schließt er ab – und gewinnt auf der ganzen Linie.«
Einige Monate später, ich arbeite mittlerweile für das Fernsehen, mache ich ein Interview mit Wałęsa, der sich jetzt nicht mehr Leszek nennen lässt, sondern Lech und inzwischen eine internationale Berühmtheit geworden ist. Er sitzt in seinem rosenkranzgeschmückten Büro und führt sich auf einmal genauso pamstig auf wie ein konventioneller Gewerkschaftsboss. Schaut während des Gesprächs die Post an, gibt hoheitsvolle Anweisungen an seine Untergebenen, genießt die Kamera, die auf ihn gerichtet ist. Die nette Frau seines Stellvertreters Andrzej Gwiazda, die auch dabei ist, flüstert
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