Zuhause ist ueberall
meistens auch. Dass sie nun auch politische Rechte verlangen, ist neu. Und das Allersensationellste: Sie bekommen diese Rechte auch. In jenem September wird in Danzig Geschichte geschrieben, das Anfangskapitel der langen Geschichte vom Fall des Staatssozialismus sowjetischer Prägung. In meinem Tagebuch liest sich das so:
»Achtzehn hektische Tage. Es waren Tage, die mich an den Prager Frühling erinnert haben, auch an den Pariser Mai – wenn plötzlich Hoffnung in der Luft liegt, alle über sich selbst hinauswachsen, Wildfremde miteinander reden wie alte Freunde, die große Freundlichkeit ausbricht. Wir haben die Streiktage, als die Riesenwerft von den Arbeitern besetzt war, erlebt wie im Fieber, bis alle Forderungen durchgesetzt waren: freie Gewerkschaften, Aufhebung der Zensur, Freilassung aller politischen Gefangenen. Und nachher haben wir einander alle umarmt wie die Verrückten.
Bilder, die im Gedächtnis haften bleiben: die Kantine der Danziger Leninwerft, ein großer kahler Saal mit vielen langen Tischen. An der Stirnseite ein kleinerer Tisch, dort tagt das Streikkomitee in Permanenz. Die übrigen Arbeiter kommen und gehen, schauen nach, wie die Lage aussieht. Täglich gibt es eine Vollversammlung. Vorsitzender: der schnurrbärtige Elektromonteur Leszek Wałęsa. Er verkündet, welche Betriebe in der Ostseeregion sich dem Streik angeschlossen haben, in Stettin, in Gdingen, in Gnesen. Jeden Tag werden es mehr. Es gibt jetzt ein überbetriebliches Streikkomitee.
Die Delegierten diskutieren die Frage, welche Betriebe streiken sollen und welche nicht. Jedes Wort wird über Lautsprecher nach draußen übertragen. Im Hof stehen die Arbeiter, Tausende an der Zahl, hören mit und entscheiden mit. Wenn ihnen etwas nicht passt, greifen sie ein. Man entscheidet: Die Bäcker sollen trotz aller Solidarität weiter arbeiten, damit die Versorgung nicht gefährdet wird. Die Arbeiter einer großen Zündholzfabrik aber sollen streiken, obwohl die Zünder im Lande schon knapp werden. Wenn die Miliz in einen Betrieb kommt, lautet ein weiterer Entschluss, soll es keinen Widerstand geben, wohl aber zivilen Ungehorsam. Jeder soll sich, wenn nötig, aus dem Betrieb hinaustragen lassen.
Im großen Saal steht links eine Leninstatue, rechts ein Kreuz – von Leszek Wałęsa persönlich angebracht –, in der Mitte der polnische Adler. Irgendjemand regt an, aus der Leninstatue ein Denkmal für die 1970 hier erschossenen streikenden Arbeiter zu machen. Der Vorschlag wird mit gutmütigem Lachen abgelehnt. Das Denkmal soll kommen, aber Lenin darf bleiben. Schließlich hat er seinerzeit die Arbeiterräte erfunden.
Die Disziplin auf dem riesigen Werksgelände ist vorbildlich. In diesem Land der begeisterten Säufer wird während achtzehn Tagen Werftbesetzung kein Tropfen Alkohol getrunken. Die Arbeiter bauen Schutzgitter um die werkseigenen Blumenbeete, damit die Fotografen, die jetzt in Massen eintreffen, die Blumen nicht zertrampeln. Jeder Zigarettenstummel wird sorgfältig aufgehoben und penibel entsorgt. Die Frauen machen Wurstbrote. Die jungen Aktivisten drucken Flugblätter in der Druckerei des Betriebes. Draußen vor dem Werkstor drängen sich die Danziger, bringen Esspakete, Blumen, reißen den Arbeitern die Flugblätter aus der Hand, besonders die Streikzeitung Solidarność .«
Faksimile des ersten Flugblattes beim Streik auf der Danziger Werft, 1980
Ein Flugblatt habe ich aufgehoben und später rahmen lassen. WYTRZYMAMY!!! steht darauf. Wir halten durch! Es hängt heute noch neben meinem Schreibtisch. Der Zeitungstitel Solidarność , mit Filzstift auf ein Stück Papier geschrieben, mit den fröhlich marschierenden Buchstaben und dem polnischen Wimpel mittendrin, ist ein spontan entstandenes kleines graphisches Meisterwerk. Er geht um die Welt und wird später zum Namen der ersten unabhängigen Gewerkschaft.
»Es wird von früh bis spät diskutiert, abgestimmt, Demokratie praktiziert. Leszek Wałęsa, der mir beim Vorbeirennen nach polnischer Art stets höflich die Hand küsst, ist überall. Er reißt alle mit, mit seiner Spontaneität, seiner Dynamik, seinem politischen Naturtalent. Immer wieder staunen wir über seine Nerven und sein Rückgrat. Als kurz nach der Werftbesetzung die Direktion fast alle materiellen Forderungen erfüllt hat, entscheidet das Streikkomitee, die Arbeit wieder aufzunehmen. Wałęsa ist dagegen. Er will die Forderungen auf politische Fragen ausdehnen, insbesondere freie Gewerkschaften. Aber er
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