Zuhause ist ueberall
Frage, wie denn die Zukunftsaussichten all dieser fleißigen Talmudschüler aussähen, die ja doch wohl nicht alle Rabbiner werden können, nur mit einer geringschätzigen Handbewegung. Wer die Thora lernt, meint er, könnte wohl ein Geschäft mit Leichtigkeit nebenher betreiben. Ich muss an Leopold Trepper denken, den großen Spion und Chef der »Roten Kapelle« in der Nazizeit. Er gründete, als das Geld der Komintern ausblieb, in Paris eine Textilfirma, die ihn sofort zum Millionär machte. Nur als Nebenjob, denn das Geschäft als solches interessierte ihn überhaupt nicht. Ihm ging es nur darum, Geld für seine kommunistische Spionagetätigkeit aufzutreiben.
Das heilige Lernen, die uralte Liebe zum Buch der Bücher, die auch noch die ungläubigen Generationen beseelt und befruchtet hat – hier erlebe ich es an seinem Ursprung. Das jüdische »Lernen« ist offensichtlich etwas ganz anderes als unsere christliche »Bibelarbeit« mit ihrer Aura von protestantischer Pflichterfüllung, und schon gar nicht ähnelt es dem katholischen Katechismus-Drill. Es ist dem Gebet verwandt, aber auch dem leidenschaftlichen Lesen »for pleasure«, etwas, von dem man sichtlich nicht genug kriegen kann und auch nicht soll. Isaac Bashevis Singer schildert in seinen Büchern die frommen Talmudisten, die von früh bis spät lernen, möglichst ohne Pause. Nicht als Kasteiung, sondern aus unersättlicher, begeisterter Liebe zur Thora. Diese kleinen, ziemlich ungewaschenen Jeshive-Bocher von heute sind ihre Nachkommen.
Die Thorarollen werden zu Beginn des Unterrichts von allen geküsst. Unser christlicher Kuss des Evangelienbuchs, so nehme ich an, kommt wohl von daher. Und auch das christliche Chorgebet der Ordensleute mit seinem Wechsel von Aufstehen und Hinsetzen ist vermutlich dem jüdischen Beten und Lernen verwandt. Nur ist an die Stelle des jüdischen Geschockels römische Zackigkeit getreten.
Lernen ist ganz offensichtlich in der jüdischen Welt das Wichtigste und das, was einen Menschen recht eigentlich zum Menschen macht. (Auch Franz hatte diese Einstellung noch. Er lernte, also las und studierte, täglich, und das Verdikt: »Er lernt nicht«, bezogen etwa auf einen Politiker wie Kreisky, war aus seinem Mund die ärgste Verdammung.) Und folgerichtig ist der Gelehrte, nicht der Reiche und Mächtige, der Angesehenste in der Gemeinde.
Wir drehen eine chassidische Hochzeit. Der Bräutigam ist ein gelehrter Talmudist aus Amerika. Er heiratet ein Mädchen aus Jerusalem, und der Brautvater, ein wohlhabender Mann, rechnet es sich zur Ehre an, den Schwiegersohn zeitlebens »auf Kost« zu nehmen, also auszuhalten.
Die Hochzeit ist festlich und trotz der angereisten New Yorker Verwandtschaft wohl nicht viel anders, als so etwas einst in Galizien gewesen sein muss. Braut und Bräutigam haben sich vorher noch nie allein gesehen. Ein »Schadchen« hat das Ganze arrangiert. Männer und Frauen feiern und tanzen getrennt, und vom Hochzeitsessen muss die ganze Gemeinde satt werden. Bei dieser Gelegenheit wird mir wieder einmal klar, dass orthodoxes jüdisches Leben nur für Männer interessant ist. Für Frauen, mit ihrer Beschränkung auf Essen und Haushalt und Verwandtengeschichten, muss es ziemlich öd sein.
Unser junger israelischer Tonmeister Gidi leidet übrigens bei alldem Qualen. Wie die meisten modernen Israelis kann er die Frommen nicht leiden. »The black crows« nennt er sie. Und als ich den Söhnen des Rabbi Wolf für die Vermittlung hundert Dollar in die Hand drücke – sie nehmen sie eher angeekelt entgegen –, wird Gidi direkt böse. »Don’t give them money«, sagt er. »They don’t deserve it.«
Wie bei den superfrommen Katholiken sehen wir auch bei den ultraorthodoxen Juden in Mea Shearim manch düsteren Fundamentalismus und manch pfäffische Selbstgefälligkeit. Aber auch heitere fromme Menschenfreundlichkeit. Ein netter Dozent der Hebräischen Universität, ein säkularer Jude und einer der wenigen jüngeren Israelis, der sich für die alte Welt des Stetls und die jiddische Sprache interessieren, führt uns in eine kleine Schusterwerkstatt in Mea Shearim. Ein winziges Häuschen. Ein düsterer Verschlag, darin der bärtige Herr Dreiberg an der Schuster-Nähmaschine. Seine neun Kinder sind alle in diesem Häuschen aufgewachsen.
Herrn Dreibergs Tageslauf steht dem eines Benediktiners nicht nach – nur dass er dabei auch für eine große Familie sorgen muss. Jeden Tag um fünf Uhr früh geht er hinüber in die
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