Zuhause ist ueberall
»Schul« zum Lernen. Studieren und Beten gehören zusammen. Danach wird geschustert, dann wieder gelernt und gebetet. Sein Tag endet um elf Uhr abends. Frage: Kann man denn überhaupt so viel lernen? Reb Dreibergs Antwort: Die Thora ist so hoch wie der höchste Berg und so tief wie das tiefste Meer. Da hört das Lernen nie auf.
Am Schluss lässt er sich – nach Rücksprache mit seiner bärbeißigen Frau, einer »Klafte«, wie Franz gesagt hätte – dann doch nicht filmen. »Nisch fir ins.« Aber gleichsam zum Trost repariert er voller Freundlichkeit und höchst kompetent meine kaputten Sandalen, wobei er die Tatsache, dass er dafür kein Geld nehmen will, vor seiner Frau geflissentlich verschweigt.
Neben den Frommen, die auf den Messias warten, treffen wir auch ihre säkularisierten Brüder, die Zionisten und die Revolutionäre. Etwa den alten Kibbuznik Schlomo Atir. Er stammt aus frommem Haus, aber er und seine Freunde, sagt er, wollten »selber der Messias sein« und gingen von Galizien aus ins damals noch unwirtliche und gefährliche Palästina. Herr Atir spricht voller Liebe und Stolz von seinem Großvater Reb Itzele Schoner, einem gelehrten Talmudisten. Itzele Schoner heißt so viel wie Itzele, der Lerner. Aber der Enkel ließ sich als »Chaluz« (Pionier) in der Landwirtschaft ausbilden. Er zeigt uns Fotos: der Vater in k.u.k. Uniform, er selbst als stolzer Jungzionist im Schlosseranzug, seine Braut, bezopft und jugendbewegt, im Ernteeinsatz.
Schlomo Atir stammt aus Kutno, der Heimatstadt des Schriftstellers Schalom Asch, Autor des bekannten Romans »Motke Ganev«, Motke, der Gauner. Die Figur des Motke war einem wirklichen Gauner aus Kutno nachempfunden, erzählt uns Herr Atir. Als der inzwischen berühmte Schalom Asch eines Tages nach Kutno zurückkommt, meldet sich der Original-Motke bei ihm und verlangt Tantiemen. Schließlich hatte er die Gaunerstücke im Roman ausgeheckt. Herr Atir, der beide noch kannte, sagt, Asch hätte das auch eingesehen, und bezahlt.
Und die Revolutionäre? In Tel Aviv finden wir in einer schmuddeligen Seitengasse noch ein Büro des »Bund«, ein letzter, rührender Rest der einst mächtigen und heroischen jüdischen Arbeiterorganisation. Eine kleine Bibliothek mit marxistischen Klassikern und Arbeiterromanen auf Jiddisch und Polnisch. Ein schäbiger Aufenthaltsraum, in dem ein paar Veteranen Tee trinken, Schach spielen und von alten Zeiten reden. Der Bibliothekar ist ein alter Textilarbeiter aus Łódź. Er erzählt von den Streiks in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, von den Sweatshops dort und von dem Tag, an dem er in seiner Eigenschaft als »Delegat« (Betriebsrat) mit seinen Kollegen am Vorabend des Sabbat zum frommen jüdischen Fabrikanten Belinski gegangen war, um den Wochenlohn einzufordern. Mit der Drohung, sonst den gedeckten Sabbat-Tisch mitsamt der bereits aufgetragenen Nudelsuppe beim Fenster hinauszuwerfen. Gottlob zahlte Belinski.
Für die meisten modernen Israelis ist auch dieser Teil ihrer Vergangenheit inklusive der jiddischen Sprache ziemlich fremd und durchaus nicht beliebt. Unser Gidi, ein ausgesprochen netter Bursche, Nachkomme russischer Juden und aufgewachsen in einem Kibbuz, hat begreiflicherweise von all diesen Generationen von Lernern, Betern, Umstürzlern mehr als genug. Diese neue Generation will kein Jiddisch mehr hören, sie wartet auf keinen Messias und keine Revolution, sie zieht weg von den Kibbuzim und möchte vor allem eins haben: ein ganz normales, friedliches Land. Theodor Herzls Traum vom »Volk wie andere auch« ist in Erfüllung gegangen – aber die Utopie daran ist weg. Ob das gut ist oder schlecht, wage ich nicht zu sagen.
Der letzte Jude von Frauenkirchen
Irgendwo habe ich von den »Sieben heiligen Gemeinden« im Burgenland gelesen. Jüdische Gemeinden. Ich möchte wissen, was es mit diesen auf sich hat und schlage im österreichischen »Handbuch der historischen Stätten« nach. Beim Wallfahrtsort Frauenkirchen wird auch eine Judenansiedlung kurz erwähnt. »Eigenes Ghetto … Rabbiner … Lehrer … 1696 zählt die Judengemeinde 100 Seelen.« 1696. Aber was war nachher? Hinfahren und nachschauen.
Und jetzt stehe ich auf dem Marktplatz von Frauenkirchen, das Buch in der Hand. Breit und still liegt der Platz da, vorn die Kirche, rechts das Wirtshaus, links das Franziskanerkloster. Dort, wo jetzt die Tankstelle ist, muss früher der Anger gewesen sein. Aber wo haben die Juden gewohnt? Aus dem Handbuch habe ich erfahren, wie
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