Zuhause ist ueberall
Gräber. Da liegen die Menschen, die seit 1945 hier gestorben sind. Die Grabsteine der deutschen Landskroner, die seit Jahrhunderten hier zu Hause waren, sind einfach weg. Abgerissen, damit nichts mehr an die Geschichte der Stadt erinnert. Die Toten hättet ihr wenigstens in Ruhe lassen können, denke ich wütend. Bei einem der neuen Gräber sehe ich eine alte Frau, die die Blumen gießt. Ich frage sie, ob sie weiß, wo die Menschen begraben sind, die 1945 getötet worden sind. Sie deutet stumm auf einen abgelegenen Teil des Friedhofs. Dort. Ein ungepflegtes Stück Erde, eher Mistplatz als Gottesacker. Vlasta und Olda sind sehr still, als wir den Friedhof verlassen.
Wir lernen einen Landskroner Künstler kennen. Er hatte einen deutschen Vater und eine tschechische Mutter. Als kleines Kind hat er, irgendwo versteckt, das Massaker auf dem Hauptplatz beobachtet, erzählt er uns. Die Bilder haben ihn nie wieder losgelassen. Er hat das Ereignis gezeichnet, immer wieder. Er zeigt uns die Bilder. Niemand will sie ausstellen. Der Mann ist besessen von seinem schrecklichen Kindheitserlebnis, und ich kann verstehen, dass er seinen Mitbürgern damit auf die Nerven geht. Er führt uns in den nahen Wald, wo damals Jagd auf Deutsche gemacht wurde. Da, unter diesem Baum, wurde einer erschossen. Und da. Und da. Ein Stück Geschichte, von dem niemand etwas wissen will. Genau wie seinerzeit bei uns in Österreich.
Zumindest vorderhand. Denn allmählich regt sich auch in der Tschechischen Republik eine junge Generation, die Licht ins Dunkel der Vergangenheit bringen will. Mit jedem Jahr werden die jungen Forscher zahlreicher. In Ústí nad Labem, früher Aussig an der Elbe, hat ein Historikerehepaar seit Jahr und Tag Erinnerungsstücke an die vertriebenen deutschen Stadtbewohner gesammelt. Ihre Sammlung wird zum Kernstück eines Museums. Ich bin bei der Eröffnung dabei, sogar der neue Staatspräsident Václav Klaus hält dazu eine Rede. In einem Grenzdorf im Böhmerwald richten junge Leute den devastierten deutschen Friedhof wieder her. In Brünn erforscht eine Gruppe die deutsche Stadtgeschichte. Die Geschichte der böhmischen Länder, die eine Geschichte zweier Völker ist, der Tschechen wie der Deutschen, meldet sich wieder zurück.
Aber zurückdrehen kann man sie trotzdem nicht. Als ich wieder nach Prag übersiedelte, hatte ich die vage Vorstellung, mir vielleicht eine kleine Wohnung in der Stadt zu suchen, um auch nach Ablauf meines Korrespondentenvertrags hin und wieder herzukommen. Eine Art Absteigquartier. Eine Art zweite Heimat. Manchmal ruft mich Věra an und sagt: Du, ich hab da was gesehen. Auf der Kampa. Genau richtig für dich. Aber ich warte noch ab. Man wird sehen.
Irgendwann bin ich zu einem geselligen Abend eingeladen. Ein paar Journalisten sind da, ein paar Politiker. Es wird über die Europäische Union gesprochen. Die Tschechische Republik bereitet sich auf den Beitritt vor. Dann, sagt jemand, werden alle Europäer problemlos ins Land kommen können, auch die ehemals Vertriebenen. Er sieht mich an dabei. Aber da werde ich plötzlich wütend. Was heißt hier »alle Europäer«? Ich bin doch keine Touristin. Ich bin hier geboren, ich bin – das habe ich jedenfalls bisher gedacht – hier zu Hause. Das ist auch meine Stadt. Vergeblich versuche ich den anderen Gästen zu erklären, was ich meine. Ich möchte nur, sage ich, auf meine alten Tage auf einem Bankerl auf dem Laurenziberg sitzen, hinunter schauen auf die Kleinseite und sagen: Das ist mein Prag. Ich schlucke dabei ein bisschen und denke verzweifelt: Jetzt nur nicht auch noch zu heulen anfangen. Mein Gesprächspartner beschwichtigt. Er ist ein netter Mann und jetzt ein bisschen geniert. Ich baue Ihnen eigenhändig ein Bankerl auf dem Laurenziberg (der jetzt übrigens Petřín heißt), sagt er. Das ist sehr lieb gemeint. Aber nicht das, was ich hören wollte.
Als ich spätabends über die Moldaubrücke zu meiner Dienstwohnung fahre, weiß ich: Aus dem ständigen Absteigquartier in Prag wird nichts. Ich bin dienstlich hier, auf Besuch, aber ich bin nicht zurückgekommen. Es gibt kein Zurückkommen. Die Vertreibung war endgültig.
In den Jahren seither habe ich immer wieder von Prag geträumt. Der Traum hatte Variationen. Manchmal verschmolz die Stadt mit anderen Städten, die ich liebe, Venedig etwa oder Jerusalem. Es war ein Sehnsuchtstraum. Kurz nach jenem Abend kehre ich nach Wien zurück. Ein Kapitel ist zu Ende. Ich fahre noch manchmal in meine
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