Zuhause ist ueberall
Geburtsstadt. Aber der Traum von Prag ist nicht mehr wiedergekommen.
Als die Mauer fiel
Den unmittelbar bevorstehenden Fall der Berliner Mauer habe ich durch das Radio erfahren. Ich bin mit einem Kamerateam in Ost-Berlin. Die Stadt brodelt, das große Thema ist die Ausreise in den Westen, die immer mehr DDR-Bürger anstreben und oft auch bewilligt bekommen. In den Botschaften der Bundesrepublik Deutschland in Prag und Budapest drängen sich Tausende, die einen Urlaub in einer Brudernation benutzt haben, um in der BRD-Vertretung Unterschlupf zu suchen und von dort aus in den Westen zu gelangen. In Leipzig demonstrieren nach den Friedensgebeten in der Nikolaikirche Tausende mit der Losung »Wir sind das Volk« und zunehmend auch mit »Wir sind ein Volk«. Und auch in Berlin wird schon demonstriert.
Wir sitzen im Auto und hören im Autoradio eine Pressekonferenz des Berliner Parteichefs und Mitglieds des Politbüros der SED Günter Schabowski. Der verklausulierte und mittlerweile berühmte Satz fällt, dass die Ausreise nunmehr auch »über die Staatsgrenze« möglich sei. Mich reißt es. Aber das heißt ja, sage ich, die Mauer ist offen. Kameramann und Tonassistent lachen: das wohl kaum. Aber mir lässt es keine Ruhe, und ich sage: Fahren wir einfach hin. Kameramann Alex hat sich ein Mädchen aus Ost-Berlin angelacht, eine kleine Blonde namens Gisela. Sie sitzt mit uns im Auto, als wir zum nächsten Grenzübergang an einer Spreebrücke fahren. Und tatsächlich: Viele Ost-Berliner haben genauso reagiert wie wir und strömen zu der Brücke. Und die Grenzwächter lassen sie hinüber. Sie blicken verdattert, wissen nicht recht, wie ihnen geschieht. Aber Schabowski hat auf die Frage, ab wann denn die neue Regelung gelte, etwas unsicher, aber eindeutig geantwortet: nach meiner Kenntnis sofort.
Und jetzt stehen wir auf der Brücke, während ein Strom von Menschen an uns vorüberzieht. Noch ist die Szenerie nicht so, wie wir sie später im Fernsehen sehen werden: Jubel, Champagner, Freudentänze. In dieser ersten Stunde haben die Leute noch nicht wirklich begriffen, dass nach achtundzwanzig Jahren Eingesperrtsein plötzlich alles anders geworden ist. Sie gehen stumm dahin. Wie Schlafwandler. Wie im Traum. Und auch die kleine Gisela ist stumm. Ich versuche sie zu interviewen. Wie das denn sei, auf einmal nach West-Berlin zu marschieren. Wie ihr denn zumute sei. Ob sie sich freue. Aber sie hört mich gar nicht. Sie muss den Ansturm der Emotionen erst verarbeiten. Gisela ist nach dem Mauerbau geboren, West-Berlin war für sie bisher so weit entfernt und so unerreichbar wie der Mond. Ich habe einen Stadtplan von »Berlin, Hauptstadt der DDR«. Er hört an der Staatsgrenze auf. West-Berlin ist nicht eingezeichnet. Was hinter der Mauer liegt, ist einfach grün, ein unbestimmtes, grünes Nichts. Gibt es überhaupt ein Leben jenseits der Mauer?
Der Fall der Mauer ist ein Erlebnis, für mich aber gleichzeitig auch die größte berufliche Niederlage meines Lebens. Wir drehen die halbe Nacht, haben wunderschöne Bilder und berührende Statements. Jetzt heißt es, das Material nach Wien zu bringen. Aber wie? Alle Straßen sind verstopft, zum DDR-Fernsehzentrum in Adlershof ist kein Durchkommen, und auf die Schnelle lässt sich dort auch keine Leitung bestellen. Wir sind in West-Berlin und fahren rasch zum Sender Freies Berlin. Dort ist die Hölle los. Fernsehteams aus aller Welt drängen sich, die Abwickler kommen kaum nach. Sie nehmen unsere Kassetten entgegen, die Leitung ist bestellt, sie versprechen, für die Übermittlung zu sorgen. Aber die Bestätigung aus Wien kommt nicht. Wir sind todmüde, wollen ins Bett, haben Lob erwartet. Es kommt keines. Ich rufe in Wien an und höre: Wir haben nichts bekommen.
Das darf doch nicht wahr sein! Aber es ist wahr. Alle unsere schönen historischen Bilder und Interviews und mein historischer »Aufsager« auf der Spreebrücke sind im allgemeinen Trubel verloren gegangen. Das ist zu viel für mich. Ich setze mich auf einen Randstein und heule.
Jede Revolution, jeder Umsturz und auch jede Diktatur ist anders. Jede hat ein eigenes Gesicht, und jede ist geprägt von einer langen Vorgeschichte. Ich war in den letzten Jahren fast ständig in den kommunistischen Staaten Osteuropas unterwegs, in der Tschechoslowakei, in Polen, in Ungarn. Die DDR fand ich am unerträglichsten, und zwar deshalb, weil sich hier die allgegenwärtige Bevormundung durch den Staat nicht nur auf die Politik bezog, sondern
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