Zuhause ist ueberall
auch auf jedes Detail des täglichen Lebens.
Mit Kameramann Alex Komarek, Ost-Berlin 1986
Drei Jahre vor dem Mauerfall bin ich mit dem Kamerateam durch das Land gereist und habe in meinem Tagebuch notiert: »Die DDR ist eine Mischung aus Kasernenhof und Kindergarten. Entweder hat man es mit dem Feldwebel zu tun oder mit der Kindergartentante. Beide erklären einem abwechselnd oder gleichzeitig, jedenfalls pausenlos, was man zu tun, zu lassen, zu denken hat. So kann man beispielsweise aus dem Taxi nur rechts aussteigen und sich dabei aufs Mühsamste verrenken. Die linke Tür bleibt versperrt, um den mündigen Fahrgast vor dem Überfahrenwerden durch passierende Autos zu bewahren. Auch wenn weit und breit keine zu sehen sind. In einem Restaurant am Müggelsee werden, wenn die Tische voll sind, die Türen versperrt. ›Einlass‹ ist erst wieder, wenn ein Raum frei ist. Auf diese Weise versäumen wir einen Schriftstellerfunktionär, mit dem wir zu einem Interview verabredet sind. Er zieht, angesichts der versperrten Tür, unverrichteter Dinge wieder ab, während wir drinnen sorgfältig das Licht aufgebaut und alles hergerichtet haben.
Als unser Assistent Michael im vornehmen Hotel Metropol eine heiße Suppe bestellt, eine kalte bekommt und sich beschwert, bescheidet ihn die Kellnerin kurz und bündig: Diese Suppe ist heiß genug. Im Haus Berlin am Strausberger Platz gibt es ein eigenes Verkaufsbüro mit eigenem, reichlichem Personal. Was dort verkauft wird? Tischbestellungen für das oben befindliche Restaurant. Wehe, man wendet sich an Ort und Stelle direkt an die Kellnerin. Dann wird man angeschnauzt.
Den Vogel schießt freilich der Schleusenwärter am – Westberliner – Landwehrkanal ab. Als wir dort zum Drehen in ein Spreeboot des Westberliner Senats einsteigen, in Unkenntnis der Tatsache, dass wir uns – dank der Geheimnisse der Viermächtevereinbarung – in einer winzigen DDR-Enklave mitten in West-Berlin befinden und also Grenzverletzung begehen, schlägt der Schleusenwärter einen Riesenkrach, gipfelnd in dem bemerkenswerten Satz: Ich habe hier einen Bluthund, wenn ich den losgelassen hätte, wären Sie die Dummen gewesen.
Ich mache die Runde bei den Ost-Berliner Oppositionellen. Es sind meistens junge Aussteiger. Was einem im Gespräch mit diesen Leuten sofort auffällt – im Vergleich zu ihren Pendants in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei –, ist ihre Bescheidenheit. Anständigkeit ist die Haupttriebkraft ihres Handelns. Sie haben keine Rosinen im Kopf, keine nationalen Anliegen, keine Märtyrerromantik. Sie wollen nur einfach etwas mehr Vernunft und etwas weniger Verlogenheit im täglichen Leben der Menschen. Die Kehrseite: Dieser Opposition fehlen die bedeutenden Köpfe, die etwa imstande wären, der Partei gegenüber ein Alternativprogramm zu formulieren. Eine ›Eingabe‹, die die Malerin Bärbel Bohley und etwa zwanzig Gleichgesinnte dieser Tage an den Parteitag der SED gerichtet haben, ist im Allgemein-Moralischen geblieben, mit Rekurs auf den ›wahren Sozialismus‹. Der ganze Kreis besteht offenbar aus netten Leuten, meist Nicht-Studierten, Pseudo-Künstlern, Möchtegern-Bohemiens. Typen, wie man sie in alternativen Bierlokalen und ähnlichen Orten findet.
Aber woher die großen Geister und die gebildeten Könner auch nehmen? Diesem Halbland sind die traditionellen Führungsschichten seit 1945 kontinuierlich weggelaufen. Was an jungen Talenten nachwächst, geht früher oder später. Allein im Vorjahr waren es 50 000. Zurzeit liegen dem Innenministerium, so heißt es, 600 000 Ausreiseanträge vor. Offenkundig sind es nicht nur die Kritischen, sondern auch die Dynamischen und Tüchtigen, die gehen.
Im ganzen Land läuft gerade eine große Kampagne zur Modernisierung der Volkswirtschaft. In fast jedem Artikel des Neuen Deutschland kommen neuerdings die Wörter ›Schlüsseltechnologie‹ und ›Cad Cam‹ vor. Ich habe erst lange nachfragen müssen, bis mir jemand sagen konnte, was das heißt: Computer-aided Design and Computer-aided Manufacturing. Trotzdem scheint mir die DDR ein No-Future-Land zu sein. Bärbel Bohley erzählte von einem sogenannten Jugendbrigadier, den sie irgendwo getroffen hat. Qualifizierter Baufachmann, beschäftigt an einem Großprojekt in der Friedrichstraße, wo bessere Materialien und neue Technologien benutzt werden. Um diesen Arbeitsplatz zu behalten, müsse er mit seinen 45 Jahren in die FDJ, die ›Freie Deutsche Jugend‹, gehen, im Blauhemd zum Dienst
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