Zuhause ist ueberall
jemand geschrieben: »Tod dem System«. Auch ein Ukrainisches Haus gibt es, in einem eleganten kleinen Palais ein Polnisches Haus und in der Nähe des natürlich von den in der ganzen Monarchie tätigen Architekten Fellner und Helmer entworfenen Theaters das ehemalige Jüdische Haus. Ein imposanter Bau, im Wiener Ringstraßenstil errichtet.
Vor 1940 gab es 43 000 Juden in Czernowitz, ein Drittel der Stadtbewohner. Der letzte österreichische Statthalter, ein Baron Bleyleben, schreibt in seinen Erinnerungen, unter ihnen seien alle politischen Richtungen vertreten gewesen – Fromme und Liberale, Zionisten, Kommunisten, Bundisten, Revisionisten, Trotzkisten. Aber alle seien »durch die Bank kaisertreu« gewesen. Alle lasen leidenschaftlich gern Zeitung, alle träumten davon, wenigstens einmal im Leben vom prächtigen Hauptbahnhof im Direktzug nach Wien zu fahren (heute unmöglich), und unglaublich viele von ihnen waren, im Haupt- oder Nebenberuf, Schriftsteller. Einmal gab es Zoff, weil im Jüdischen Haus ein Kongress jiddischer Schriftsteller stattfinden sollte. Berühmte Autoren waren angesagt, darunter Schalom Asch, aber die mehrheitlich assimilierte Czernowitzer Judengemeinde befand: Nein, nicht bei uns. Man war fürs Deutsche, nicht fürs Jiddische.
Das Ende kam, als 1941 die Deutschen einrückten und SS-Einsatzgruppen am Ufer des Flusses Pruth 685 jüdische Czernowitzer Bürger erschossen. Dann übernahmen die mit den Deutschen verbündeten Rumänen die Stadt und deportierten nach und nach die gesamte jüdische Bevölkerung in die Gebiete jenseits des Dnjestr, nach Transnistrien. Hier gab es zwar keine Vernichtungslager, aber auch kein Essen, kein Wasser, keine Versorgung. Die allermeisten Vertriebenen gingen zugrunde, an Hunger und Seuchen.
Einer, der überlebt hat, ist der Czernowitzer Schriftsteller Josef Burg. 91 Jahre ist er jetzt alt, ein lebhafter kleiner Mann, der von sich selbst sagt: Mein Leben besteht aus lauter Wundern. Er kam zurück, nachdem er sich nach Russland durchgeschlagen und sich dort als Kohlenkumpel in Sibirien, als Volksschullehrer in der Wolgarepublik und als Landarbeiter im Kaukasus über Wasser gehalten hatte. Aus seiner Familie waren alle tot. Jetzt ist er der letzte jüdische Schriftsteller in Czernowitz und wird herumgereicht wie eine Sehenswürdigkeit. Die Situation ist halb tragisch, halb komisch, ein Umstand, der dem alten Herrn durchaus bewusst ist.
Als ein schwedischer Kollege und ich ihn in seiner Wohnung besuchen, zeigt er uns schmunzelnd Orden aus Deutschland und Österreich. Auch Jörg Haider, der Anführer der weit rechts stehenden Freiheitlichen Partei Österreichs, hat den allergrößten Wert darauf gelegt, sich mit ihm fotografieren zu lassen. Der letzte jüdische Schriftsteller in der einstigen Schriftstellerstadt gibt die Czernowitzer Blätter heraus, auf Jiddisch, in hebräischen Lettern gedruckt. Die Zeitschrift wird subventioniert. Wir ahnen: Josef Burg ist ihr einziger Leser.
Die Czernowitzer Juden waren in ihrer Mehrzahl assimiliert und aufgeklärt, aber in der Nähe der Stadt liegt ein berühmtes chassidisches Heiligtum: der »Hof« des einstigen Wunderrabbis von Sadagora, Israel Friedmann. Von weither strömten einst die Frommen in Scharen hierher, um den heiligmäßigen Zaddik zu sehen und sich bei ihm Rat und Trost zu holen. Auch die nichtjüdische Czernowitzer Gesellschaft versäumte es nicht, diesem ihre Aufwartung zu machen. Mein Großvater Heinrich Coudenhove-Kalergi, in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts ein neugieriger Student an der lokalen Universität, berichtet in seinen Erinnerungen von einem Besuch in Sadagora. Die Söhne des Rabbi organisierten den Pilgerstrom und bestimmten, wer wann vorgelassen wurde. Endlich war die Reihe an dem Studenten aus Böhmen. Was sein Vater denn so mache, fragte der große Mann seinen jungen Besucher. Er sitze im Reichsrat. Für welche Partei? Für die Konservativen. Gut so, meinte der Berühmte. Die Leute, die Religion haben, sollen zusammenhalten.
Hundertdreißig Jahre später finden wir in Sadagora nur noch eine Ruine vor. Der »Hof« ist ein einst stattliches, sienarot verputztes Gebäude. Aber das Dach ist eingestürzt. Im großen Mittelzimmer, einst wohl der Audienzsaal des Wunderrabbi, liegt knöcheltief der Schutt. Durch das Loch in der Decke sieht man den Himmel. Als wir ankommen, verlässt gerade eine Gruppe orthodoxer Juden in traditioneller Tracht das Haus. Es sind wohl Chassiden aus Israel auf
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