Zuhause ist ueberall
und in der Kirche den gregorianischen Kalender. Gegen die polnische Herrschaft hat man zwar seinerzeit gekämpft, aber heute ist Polen der goldene Westen und das polnische Fernsehen, das man in Lemberg empfangen kann, ein Stück unzensurierte Freiheit.
Der Lytschakiwski-Friedhof ist der schönste Friedhof der Stadt, so etwas wie ein Lemberger Père Lachaise. Die alten Frauen, die vor dem Friedhofstor Blumen verkaufen, leben vor allem von den polnischen Touristen, die hierherkommen. Sie legen die Blumen auf die Gräber von polnischen Schauspielerinnen und polnischen Generälen, aber vor allem auf die Gräber der polnischen Gefallenen bei den polnisch-ukrainischen Kämpfen von 1919. An sie erinnert ein eigener Soldatenfriedhof. Später hat man auch eine eigene Grabanlage für die ukrainischen Kämpfer errichtet. Sie soll eines Tages in Anwesenheit beider Präsidenten, des polnischen und des ukrainischen, eingeweiht werden, zum Zeichen der Versöhnung. Aber dazu ist es bisher noch nicht gekommen. Alte Wunden heilen schwer.
Aber es gibt auch neue Wunden. Gleich hinter dem Friedhofstor finden wir ein frisches Grab, über und über mit Blumen bedeckt. Hier liegt der Journalist Oleksandr Krywenko, Chefredakteur der Zeitschrift Postup , des besten und kritischsten Mediums des Landes. Krywenko, den seine Freunde Saschko nannten, kam vor einigen Monaten nahe Kiew bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben. Diese berühmten Autounfälle, sagen die Lemberger. Wer zu viele Fragen stellt, lebt in der Ukraine gefährlich.
Die meisten Fälle kamen nie in die westliche Presse. Nur der Tod des Reporters Juri Gongadse wurde über die Grenzen des Landes hinaus bekannt. Man fand die Leiche in einem Wald, der Kopf war abgetrennt. Es gab eine Tonbandaufzeichnung, auf der der ukrainische Präsident Leonid Kutschma mit der Bemerkung zu hören war, der Journalist Gongadse, der mit seinen Artikeln den Autoritäten gefährlich geworden war, gehöre »erledigt«.
Als Oleksandr Krywenko starb, erzwang die Lemberger Öffentlichkeit seine Bestattung auf dem Lytschakiwski-Friedhof. Zum Begräbnis erschien die gesamte Lemberger Intelligenzija. Und bis heute werden auf seinem Grab Blumen niedergelegt. Das in einem Land, in dem die meisten Leute bitterarm sind und ein Blumenstrauß eine beträchtliche Ausgabe darstellt.
Armut, Korruption, Autoritarismus, Rückständigkeit, organisiertes Verbrechen und ein stetes und oft vergebliches Bemühen um Anerkennung und Aufmerksamkeit für ein kaum bekanntes Land zwischen Polen und Russland – das ist die Ukraine. Aber auch der Kampf Oleksandr Krywenkos und anderer für Meinungsfreiheit und Demokratie, mühsam, gefährlich und unbedankt, gehört zur jüngeren Geschichte dieses schwer geprüften Landes. Ich denke bei mir: Mit diesem Grab ist der polnische Lytschakiwski-Friedhof auch zu einem ukrainischen Friedhof geworden. Bei den alten Frauen am Eingang kaufe ich einen Strauß bunter Astern und legte ihn zu den anderen Blumen auf Saschkos Grab.
Polnische Herren und jüdische Dichter, österreichische Beamte und huzulische Hirten, armenische Kaufleute und ruthenische Bauern – sie alle sind in der jüngeren Vergangenheit auf dem sturmgebeutelten galizischen Schiff gefahren. Sie sind immer noch da, weil eine neue ukrainische Generation sich wieder auf sie besinnt. Als ich heimkomme, sind es doch nicht zwei Reisen, die ich gemacht habe, in die Vergangenheit und in die Gegenwart, sondern nur eine.
»Land der Menschen«
Meine Korrespondentenjahre sind vorbei, und ich bin zurück in Wien. Und erlebe eine ungute Überraschung. In den letzten Jahren ist die Stimmung gegenüber Zuwanderern und Ausländern in meiner Heimat umgeschlagen. Es stimmt, seit der Wende in Osteuropa sind tatsächlich viele Fremde ins Land gekommen. Und anders als zu der Zeit, als ich selber Flüchtling war, schlagen ihnen nun Misstrauen und Ablehnung entgegen. Die Freiheitliche Partei (FPÖ) gießt Öl ins Feuer und macht sich die neue Fremdenfeindlichkeit zunutze.
Ich erinnere mich an meine eigene Flüchtlingsvergangenheit. Als wir mittellos ins Land kamen, waren die Österreicher bedeutend ärmer als jetzt. Trotzdem wurde uns geholfen, und meine Eltern wurden nicht daran gehindert, sich wieder eine Existenz aufzubauen.
Was wäre aus uns Kindern geworden, denke ich, wenn man uns so behandelt hätte, wie wir jetzt die Neuankömmlinge behandeln? Meine großen Brüder, tatendurstige Burschen, zur Untätigkeit verdammt in irgendeinem
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