Zuhause ist ueberall
ich mir, so etwas wie ein Konzentrat von allem, was in Mitteleuropa schön, und auch, was darin schrecklich ist. Kalt lässt sie mich nie.
An der Grenze
Für die meisten Österreicher, die in der Schule etwas über die Geschichte ihres Landes gelernt haben, hat die Region Galizien eine zweifache Bedeutung. Zu Zeiten der österreichisch-ungarischen Monarchie war sie die ärmste, östlichste, entfernteste Provinz des Reiches, mit kleinen armseligen Dörfchen und verschlammten Straßen. So etwas wie das österreichische Sibirien, gefürchtet von allen Beamten und Offizieren, die dorthin versetzt wurden. Und gleichzeitig war sie, gemeinsam mit der benachbarten Bukowina, auch das österreichische Arkadien, die Heimat einer ganzen Generation von geliebten Schriftstellern, von Joseph Roth bis Paul Celan, von Karl Emil Franzos bis zu Manès Sperber. Und später, aufgeteilt zwischen der Ukraine, Polen und Rumänien, jahrzehntelang für westliche Besucher praktisch unerreichbar. Für mich eine mythische Gegend.
Als es irgendeinmal nach der Wende heißt: Fahr mit nach Galizien und in die Bukowina, bin ich denn auch sofort dabei. Ich möchte sehen, wie das Land aussieht, über das ich so viel gelesen habe. Was ist noch übrig von den Städten und Ortschaften, die deren Dichter vor hundert Jahren beschrieben haben? Von Czernowitz zum Beispiel, laut Paul Celan die Stadt, »in der Menschen und Bücher leben«? Ich bin gespannt, als wir aus unserem Hotel zum ersten Mal auf die Straße treten.
Ein schönbrunnergelbes Haus in der Innenstadt, etwas schäbig, aber solide. Ein österreichischer Diplomat enthüllt eine Gedenktafel für den Biochemiker und Schriftsteller Erwin Chargaff, der hier geboren wurde. Ein Grüppchen österreichischer und ukrainischer Professoren steht herum und schaut zu. Reden werden gehalten. Wieder ein neuer Name für uns, sagt einigermaßen verwundert der Rektor der Universität, der an der kleinen Feier teilnimmt. Die Czernowitzer sind es gewohnt, dass sie jetzt immer öfter von Leuten auf der Suche nach einer Vergangenheit besucht werden, die nicht eigentlich die ihre ist. Ganz in der Nähe steht eine Celan-Büste. Auch von diesem Dichter haben die meisten noch nie gehört.
Wir sind in der Region der euphemistisch so genannten Bevölkerungstransfers. Millionen sind im Lauf des unseligen 20. Jahrhunderts in diesen »Bloodlands« getötet, entwurzelt, deportiert, vertrieben und in die halbe Welt gewirbelt worden. Kaum irgendwo wird das so deutlich wie hier in Czernowitz, einst ein Zentrum mitteleuropäischer Multikulturalität. Die Juden sind weg. Die Deutschen sind weg. Die Polen sind weg. Übrig geblieben sind die Ukrainer, die in der österreichischen Zeit Ruthenen hießen. Auf dem Land stellten sie die Masse der Bauern, in den Städten die Unterschicht. Es ist, als müssten sie erst damit zurechtkommen, dass sie plötzlich die alleinigen Herren im Hause sind.
In Czernowitz haben die Menschen innerhalb einer einzigen Generation vier verschiedene Staatsbürgerschaften gehabt: die österreichische, die rumänische, die sowjetische und die ukrainische. Eine alte Frau kommt vorbei, sieht unser Grüppchen, erkennt, dass wir Österreicher sind, und zeigt mit dem Finger zum Himmel, halb ironisch, halb anklagend. Wenn wir doch wieder bei Österreich wären, sagt sie. Das verstehen wir sogar auf Ukrainisch.
Wir haben uns mit ein paar jungen Historikern und Germanisten angefreundet, die die vielfältige und lange unterdrückte Vergangenheit ihrer Stadt wiederentdeckt haben und deren weltoffene Tradition gern aufnehmen. Wir gehen mit ihnen durch die Tschernwjastraße, vorbei an der großen Synagoge. Jetzt ist sie ein Kino, man spielt »Lara Croft«. Die Armut ist überall sichtbar, aber auch ein gewisses Selbstbewusstsein. Die Jungen fühlen sich als Europäer. Wir schlendern durch die Herrengasse, früher verlief hier der Korso. Am Eck befand sich das prächtige Café Habsburg, das sich rühmte, hier gebe es 256 Tageszeitungen aus aller Welt zu lesen. Auf unserer Reise durch Galizien und die Bukowina haben wir nirgends auch nur eine ausländische Zeitung ergattern können. Heute ist das Habsburg verschwunden, aber ein paar Häuser weiter gibt es ein neues Wiener Kaffeehaus, von einer tüchtigen Rumänin geleitet.
Hier in der Herrengasse steht auch das einstige Deutsche Haus, ein Fachwerkgebäude mit einem Hirschgeweih. Wo früher die getäfelte Bierhalle war, ist jetzt eine Lottokollektur. An die Wand hat
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