Zuhause ist ueberall
Wallfahrt. Das »Kleine Jerusalem« nannten die Czernowitzer einst den Hof von Sadagora. Sie scheinen ehrgeizige Vergleiche geliebt zu haben. Der prächtige Amtssitz des griechisch-katholischen Metropoliten war der »Kleine Vatikan«, und Czernowitz selbst, wie könnte es anders sein, war »Klein Wien«.
Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, ist die Stadt Paul Celans, Brody in Galizien ist die Stadt Joseph Roths. Im »Radetzkymarsch« und anderswo hat dieser es beschrieben, das Städtchen an der Grenze, an den Sümpfen, die Schmugglerstadt. Hier verlief einst die Grenze zwischen Österreich-Ungarn und dem russischen Zarenreich. Aber während Czernowitz fast unversehrt ist, ist vom einstigen jüdischen Stetl Brody kaum mehr etwas übrig. Die große Synagoge steht noch, aber nur gerade noch. Eine Ruine, mit Holzpfosten gestützt. Rundherum hässliche, vergammelte Neubauten aus Beton. Auch das einstige k.k. Gymnasium, wo Joseph Roth in die Schule ging, machen wir ausfindig. Es trägt, neben den Namen anderer lokaler Größen, auch den Namen Joseph Roth.
Eine engagierte Deutschlehrerin führt uns ihre Klasse vor. Die Jugendlichen wollen alle weg von hier. Warum?, fragen wir. Und bekommen zur Antwort: Weil es hier so langweilig ist. Möglich, dass Joseph Roths Schulkameraden einst ähnlich empfunden haben. Auch das kleine Museumskabinett der Schule wird uns gezeigt, mit den Bildern bedeutender Absolventen. Roths Foto ist da, aber auch das eines Generals einer ukrainischen SS-Einheit.
Als wir auf dem Hauptplatz nach irgendeiner Erinnerung an die einst fast rein jüdische (und fast zur Gänze ausgerottete) Bevölkerung des Ortes suchen, werden wir nicht fündig. Es gibt ein Denkmal, den heiligen Georg darstellend, aber die Aufschrift erinnert nur an »die Leiden der Ukrainer«. Ist denn gar keine Spur mehr da von den Juden von Brody? Sind sie alle vergessen?
Nein, es gibt noch eine Erinnerung an sie. Einer unserer jungen ukrainischen Historikerfreunde fährt uns hinaus vor die Stadt, und dort endlich finden wir, was wir suchen. Ein riesiger Friedhof, einsam gelegen zwischen Wald und Moor. Grabstein an Grabstein, aufrecht stehend oder umgestürzt, mit hebräischen Lettern, vereinzelt auch mit deutschen Aufschriften. Eine davon erinnert an einen gewissen Albert Nussbaum, Kurarzt in Abbazia. Er war, so erfahren wir, ein enger Freund von Bertha von Suttner.
Brody liegt nicht weit von Lemberg, einst Hauptstadt des Kronlands Galizien. Eine kleine Großstadt, urban, lebendig, mit Restbeständen einer vor allem polnisch, aber auch ein wenig österreichisch geprägten Eleganz. Leopolis, Lemberg, Lwow, Lwiv – der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch nennt die Stadt ein Schiff, auf dem schon viele gefahren sind. Und auch hier haben es die Ukrainer schwer, sich gegen so viel Geschichte, die nicht nur ihre Geschichte ist, durchzusetzen.
Denkmäler sind eine Möglichkeit dazu. Auf dem Hauptboulevard, der das noble Hotel George (von Fellner und Helmer erbaut) mit dem nicht weniger noblen Opernhaus verbindet, steht eine Riesenfigur des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko, vor der Universität eine ebenso riesige des zweiten Nationaldichters Ivan Franko. Der Ukraine-Reisende begegnet den beiden auf Schritt und Tritt und hat bald heraus: Der mit dem Bart ist Schewtschenko, der ohne Bart ist Franko. Schewtschenko, ein ehemaliger Leibeigener, war ein Mystiker, Franko war ein bürgerlicher Aufklärer. Die Ukrainer sind traurig, dass niemand im Ausland ihre Heroen kennt.
Aus dem alten Regime hat nur ein Denkmal für den polnischen Freiheitsdichter Adam Mickiewicz überlebt, eine graziöse Jugendstilsäule, auf der ein Engel dem Dichter einen Lorbeerkranz überreicht.
Auf dem Lemberger Schiff sind viele gefahren, auch viele Anhänger verschiedener christlicher Konfessionen. Viele Türme vieler Kirchen zeigen zum Himmel. Man braucht ein kleines Theologiestudium, um sich im Gewirr der in der Ukraine ansässigen christlichen Kirchen auszukennen, die ihre jeweiligen Oberhäupter in Lemberg, in Kiew, in Moskau oder in Rom haben und einander nicht recht leiden können.
Aber Ukraine ist nicht Ukraine. Der Westen ist griechisch-katholisch, der Osten orthodox. Der Westen ist europäisch und spricht vorwiegend Ukrainisch, der Osten ist weitgehend russifiziert und spricht überwiegend Russisch. Wien ist uns näher als Kiew, sagen die Lemberger, und viele denken laut darüber nach, die lateinische Schrift einzuführen
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