Zuhause ist ueberall
Dorfquartier, scheel angeblickt von ihrer Umgebung? Gut möglich, dass sie in die Kriminalität abgerutscht wären. Und ich denke an die Zeit, als die Ungarnflüchtlinge in Massen nach Österreich strömten und alle einander an Hilfsbereitschaft überboten. Was ist nur seither in die Österreicher gefahren?
Ich gehe zum Flüchtlingsdienst der evangelischen Diakonie und frage, ob ich dort mitarbeiten darf. Gertrude Hennefeld, Mutter eines Pfarrers, ist eine der Flüchtlingsberaterinnen. Sie nimmt mich mit ins Flüchtlingslager Traiskirchen. In der evangelischen Kirche gleich neben dem Lager, das ich noch aus der Zeit des Ungarnaufstands kenne, hat die Diakonie ihren Beratungsraum eingerichtet. In dem Zimmer sitzen Dutzende Leute, alt und jung, schwarz und weiß, treten einer nach dem andern zu den Beratern und erzählen, meist in gebrochenem Englisch, ihre Geschichte. Jede einzelne ist herzzerreißend.
Ein junger Mann mit wunderschönen langbewimperten Augen ist hier mit seiner jungen Frau, seiner epileptischen Mutter und seiner Großmutter: Christen aus dem Iran, obdachlos, aus der Bundesbetreuung hinausgeschmissen. Die Familie hat gute Chancen, nach Amerika eingelassen zu werden, aber nun droht ihr die Abschiebung. Gertrude bringt sie in einem Heim unter und will noch einmal mit den Behörden reden.
Eine bildhübsche Russin mit zwei ebenso hübschen halbwüchsigen Töchtern, die man alle sofort an eine Fotomodellagentur vermitteln könnte. Seit zwei Tagen obdachlos, aus dem Lager hinausgeworfen, weil Russen angeblich keine Asylgründe haben. Ebenfalls Heim – ich bin froh, dass die drei wenigstens vorläufig ein Dach über dem Kopf haben.
Und weiter. Zwei jüdische Burschen aus Weißrussland – um sie wird sich die Israelitische Kultusgemeinde kümmern. Eine Sorge weniger. Zwei vierzehnjährige Kosovo-Albaner, einer aus einem Heim in Linz ausgerissen, weil er zu seinem Freund in Wien wollte. Da lässt sich was machen. Ein stiller junger Schwarzer namens Theophilus, der sagt, aus Sierra Leone zu sein (ein Bürgerkriegsland), was ihm die Behörden allerdings nicht glauben. Die Experten der Diakonie werden das noch einmal prüfen.
Eine Romafrau aus Rumänien, sie hat eine Verwaltungsstrafe ausgefasst, weil sie angeblich irgendwo illegal als Kellnerin gearbeitet hat. Ich denke im Stillen: eine Zigeunerin, die arbeitet, dafür auch noch bestrafen – statt über diese Leistung froh zu sein? Katharina, Gertrudes junge Kollegin, wird Berufung einlegen. Ein alter Herr aus Afghanistan, weißhaarig, gebildet, Kunsthistoriker. Für ihn kämpft Gertrude schon seit einiger Zeit, ebenso hartnäckig wie erfolglos.
Ein Serbe, bei dessen Unterbringung guter Rat teuer ist. Die meisten Heime sind voller Albaner. Prügeleien sind vorprogrammiert. Aber in einem Caritasheim nehmen sie ihn trotzdem. Schließlich bleiben zwei Ratsuchende übrig, für die beim besten Willen kein Platz zu finden ist. Ein Sudanese, den die Behörden abgewiesen haben, weil er die sudanesische Landessprache nicht kann (er sagt, weil er sein ganzes Leben in Libyen verbracht hat), und ein junger Somali, der wegen einer Rauferei aus einem Flüchtlingsheim geflogen ist. Eine Stammesfehde. Gertrude gibt den beiden ein bisschen Geld und rät ihnen, sich illegal nach Deutschland durchzuschlagen. Gewalttätige kann sie den Diakonie- und Caritasheimen nicht zumuten. Wir haben alle ein ungutes Gefühl dabei.
Je länger sich der Tag hinzieht, desto mehr lerne ich die Berater bewundern. Gertrude ist unerschütterlich, freundlich, ohne Herablassung, von einer Gerechtigkeit und Geduld, die keine Grenzen kennt. Immer wieder fragt sie nach, immer wieder ruft sie die Behörden an, bohrt, klärt auf, weist auf Missverständnisse hin – und erreicht meistens, dass der Fall zumindest noch einmal geprüft wird. Als ich endlich heimfahre – Gertrude hält bis in den späten Abend hinein aus –, bin ich vom bloßen Dabeisitzen ziemlich erledigt und ahne einigermaßen entmutigt: Das werde ich nie können.
Wir schreiben 1999, und in Österreich stehen Nationalratswahlen an. Die Freiheitliche Partei unter ihrem charismatischen Führer Jörg Haider führt eine fulminante Wahlkampagne, erstmals mit dem Hauptschlager: Die Ausländer sind an allem schuld. Plakate zieren alle verfügbaren Flächen: »Stopp der Zuwanderung«. »Stopp der Überfremdung«. »Stopp dem Asylmissbrauch«. Man sieht schwarze Gesichter. Und ein weiteres Motiv: FPÖ-Chef Haider, angehimmelt von einer
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