Zuhause ist ueberall
täglich 15 bis 25 Kilometer, bitten in Bauernhöfen und Bürgerhäusern um Essen und Nachtquartier. Und fast immer wird uns geholfen. Wir schlafen in Heustadeln und manchmal auch in Betten. Wenn wir morgens auftauchen, wenn gemolken wird, gibt es bei den Bauern meistens frische Milch und auch ein Stück Brot. Einmal bekommen wir ein Hemd geschenkt und einmal eine Jacke. Einer hat im Hof einen alten Kinderwagen stehen, den überlässt er uns. Es ist ein Weidenkorb auf einem Eisengestell, darin verstauen wir unsere wenigen Sachen, und wenn Michi müde wird vom Marschieren, darf er aufsitzen und wird ein Stück geschoben.
Ich habe unseren Bettelmarsch keineswegs in schlechter Erinnerung. Es ist Mai. Das Wetter ist herrlich. Alles blüht. Wir sehen grüne Wiesen und friedliche Dörfer, bayrische Schindeldächer und bayrische Zwiebeltürme, in der Ferne die Berge. In einem Bauernhof dürfen wir einen ganzen Tag bleiben und uns ausruhen. Der Bauer hat Kinder in unserem Alter, sie spielen mit uns im Heustadel. Wir müssen lachen, weil der Bauer zu seinem Sohn sagt: »Berni, du Saukopf.« Ein altes Fräulein in einer Kleinstadt gibt uns ihr Schlafzimmer zum Übernachten, sie überzieht für uns die Betten frisch. Sie hat eine Katze und einen Kanarienvogel, und wir fragen uns, wieso die eine den andern noch nicht gefressen hat. Nur einmal weist uns eine Pfarrersköchin barsch ab. Sie hat wohl schon genug von den vielen Flüchtlingen, die im Pfarrhaus anklopfen. Aber das Schönste ist, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben den ganzen Tag mit meinen Eltern zusammen sein kann. Kein Fräulein, keine Lehrer. In diesen Tagen lerne ich meine Mutter erst richtig kennen. Und bin glücklich.
Die letzte Station vor der österreichischen Grenze ist Traunstein. Ein Landrat, der uns aufnimmt, warnt meine Eltern: Die Grenze ist gesperrt. Auf der Brücke vor Freilassing steht ein amerikanischer Posten, der lässt niemanden durch. Aber die Eltern beschließen: Wir versuchen es trotzdem. Wir sind aufgeregt, als wir uns mit unserem Kinderwagen der Brücke nähern und den Posten sehen. Es ist ein junger GI. Papi zeigt ihm den amerikanischen Passierschein aus dem Flüchtlingslager in Rokyzan, der Soldat besieht ihn genau und meint dann: Go ahead. Und wir sind in Österreich.
Fremdes Österreich
Österreich ist für mich, das Prager Kind, zunächst einmal die Fremde. Nicht für meinen Vater, der hier in die Schule gegangen ist und für den das Land, auch wenn es nur ein kleiner Rest seines großen Österreich ist, so etwas wie eine zweite Heimat bedeutet. Und kaum sind wir hier, beginnt auch das heimliche Netzwerk zu funktionieren, das unsere Leute, die österreichisch-ungarischen Standesgenossen, über engere Grenzen hinaus verbindet.
In Salzburg angekommen, ist meine Mutter am Ende ihrer Kräfte. Bis hierher hat sie tapfer und heiter durchgehalten. Aber jetzt, da die ärgste Anspannung vorbei ist, kann sie einfach nicht mehr. Apathisch und erledigt sitzt sie am Straßengraben. Papi läutet auf gut Glück am Gartentor einer hübschen Villa am Stadtrand. Eine weißhaarige Dame macht das Tor auf. Sie sieht meinen Vater, der in einem geschenkten alten Militärmantel und mit Mehrtagebart aussieht wie der Landstreicher, der er ja auch ist, und sagt: Kommen Sie doch herein, Sie sind willkommen. Sie macht uns einen Tee und eine große Eierspeis, ein Genuss, den wir seit vielen Wochen nicht erlebt haben. Sie ist eine baltische Baronin, wie sich herausstellt, ihre Tochter, die bei ihr wohnt, die Witwe eines der Verschwörer vom 20. Juli. Diese arbeitet als Dolmetscherin bei den Amerikanern, daher das Eipulver. Wieso sie ihn so einfach hereingelassen habe, fragt mein Vater und hört, im charakteristischen Baltendeutsch der alten Baronin: Ich werde doch noch einen Herrn erkennen. Wir dürfen ein Bad nehmen, ebenfalls das erste seit vielen Wochen, und uns ausschlafen. Ich fühle mich wie im Paradies.
Andere Bekannte, Verwandte von Verwandten und Bekannte von Bekannten werden mobilisiert. Mein Vater trifft einen ehemaligen Schulkameraden aus dem Theresianum. Dieser hört seine Geschichte, macht seinen Kleiderschrank auf und sagt: Nimm dir, was du brauchst. Papi bekommt Hemden, Socken und Unterhosen und einen Steirerjanker mit silbernen Knöpfen, den er noch jahrelang trägt. Im umgekehrten Fall, sagt der Ex-Theresianist, hättest du doch genau dasselbe gemacht. Wir werden herumgereicht und bewirtet, begrüßt und empfangen wie alte Freunde. Bei
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