Zuhause ist ueberall
gehen? Könnte er nicht auf einen anderen, weniger stressigen und weniger verantwortungsvollen Platz wechseln, ohne dass dies einer Degradierung und Demütigung gleichkäme? Und natürlich weniger verdienen? Vermutlich nicht. Mir macht niedrige Arbeit nichts aus, aber wenn mich mein Arbeitgeber von heute auf morgen als Hilfskraft in die Kantine expediert hätte, wäre ich böse gewesen. Die an sich vernünftige Praxis, dass man im Beruf unten anfängt, langsam aufsteigt und dann, wenn die Kräfte nachlassen, allmählich wieder absteigt, geht vermutlich nur in Einrichtungen, in denen Geld keine Rolle spielt.
Mutter Maria Antonia jedenfalls ist nach wie vor eine verehrte Figur im Kloster, ist für die Liturgie zuständig und genießt hohes Ansehen. Sie ist eine deutsche Aristokratin aus großem Haus, muss einmal sehr hübsch gewesen sein und leitete früher, als es eine solche noch gab, die Landwirtschaft des Klosters.
Als die Nazis kamen, sperrten sie die Abtei sofort zu. Die Schwestern wurden über das ganze Land verteilt, Maria Antonia kam in ein Lazarett, das später von der sowjetischen Besatzungsmacht übernommen wurde. Mit den Sowjetsoldaten kam sie gut aus. Ich mag die Russen, sagt sie, sie haben ein großes Herz. Nur wenn sie besoffen sind, geht man ihnen besser aus dem Weg. Zum Abschied schenkte ihr der sowjetische Kommandant Pferd und Wagen. Mit diesen kutschierte sie, mit wehendem Schleier, durch halb Österreich zurück nach Pertlstein, das nach Kriegsende wieder eröffnet wurde. Dort zogen die Russenpferde die nächsten Jahre den klostereigenen Heuwagen.
Die originellste Person im Hause ist aber ohne Zweifel Schwester Miriam, von den Mitschwestern zärtlich »Mirimaus« genannt. Sie ist ein kleines altes Weiblein mit einem bezaubernden Lächeln, das hohe Intellektualität mit einem fast kindlichen Glauben verbindet. Schwester Miriam ist eine renommierte Alttestamentlerin und war vormals Lehrerin an der progressiven Neulandschule in Wien. Heute noch unterrichtet sie Altes Testament am Priesterseminar in Graz. Neulich war der Regens da, um sie für ein weiteres Semester zu verpflichten. Die Äbtissin sagte ja, machte aber diskret darauf aufmerksam, dass Schwester Miriam jetzt schon gelegentlich einiges durcheinanderbringt. Nicht die Könige und Propheten der Bibel, die hält sie perfekt auseinander. Aber im Kloster kann es schon vorkommen, dass man einmal einen Löffel in der Sakristei findet und das Gebetbuch neben der Abwasch in der Küche. Und einmal kam eine Mitschwester abends in ihre Zelle, fand vor ihrem Bett zwei winzige Pantöffelchen und in dem Bett die schlafende, ebenfalls winzige Schwester Miriam. Wie bei Schneewittchen und den sieben Zwergen. Wer hat in meinem Bettchen geschlafen? Miriam hatte die Türen verwechselt. Den Leuten vom Priesterseminar macht das nichts aus. Wir werden schon gut auf sie aufpassen, sagt der Regens. Die Seminaristen lieben die kleine, gescheite alte Nonne und wollen sie unbedingt wieder als Referentin haben.
Schwester Miriam ist jüdischer Herkunft. Als die Nazis kamen, konnten die Mitschwestern sie gerade noch rechtzeitig in einem belgischen Kloster unterbringen. Zu mir sagt sie: Drüben musst du unbedingt meinen Vater kennenlernen. Der wird dir gefallen. »Drüben« ist der Himmel, in den sie eines Tages so selbstverständlich hinübergehen will, wie man von einem Zimmer ins andere geht. Kurz vor ihrem Tod habe ich Schwester Miriam noch einmal besucht. Sie war meistens geistig abwesend, hatte dazwischen aber immer wieder klare Momente, in denen sie Besucher erkannte. In einem dieser Momente meinte sie, mit einem Ausdruck freudiger Spannung: Mit mir geht es ja jetzt erst richtig los.
»Mirimaus« ist ein Original, aber eigentlich ist jede der Schwestern hier eine Persönlichkeit. Die schöne und tüchtige Schwester Michaela, die die Obstplantagen managt. Steirische Äpfel mit Gütesiegel. Schwester Basilia, eine an der Kunstakademie ausgebildete Malerin, die sich auf Glasfenster spezialisiert hat. Diese sind in der ganzen Steiermark gefragt und bilden eine wesentliche Einkommensquelle für das Kloster, in dem Geld immer äußerst knapp ist. Schwester Gregoria an der Pforte mit ihrer Adlernase und ihrem lauten ansteckenden Lachen. Sie kommt aus einer bekannten Wiener Gelehrtenfamilie, kümmert sich um die vielen jungen Leute, die als Gäste hierherkommen, und sagt: Das ist ja schauderbar, wenn jemand von den Unbilden der Welt draußen erzählt.
Schwester Renate,
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