Zum ersten Mal verliebt
Dieses Gefühl war jetzt plötzlich weg. Irene gehörte nicht »zum Stamme Josephs«, wie Mrs Elliott sich ausdrücken würde. Rilla war Irene über den Kopf gewachsen, aber das sagte sie nicht, sie dachte es noch nicht einmal. Wäre ihr der Gedanke gekommen, dann hätte sie ihn für absurd gehalten, wo sie doch noch keine siebzehn war und Irene schon zwanzig. Aber es war die Wahrheit. Irene war immer noch dieselbe wie im Jahr zuvor, und dieselbe, die sie immer sein würde. Rilla Blythe hatte sich in diesem Jahr verändert, sie war erwachsener und nachdenklicher geworden. Plötzlich durchschaute sie Irene mit bestürzender Klarheit. Sie durchschaute ihre gekünstelte Liebenswürdigkeit und erkannte, wie klein sie war, wie rachsüchtig, falsch und wie absolut nichts sagend. Irene hatte damit ihre treueste Verehrerin für immer verloren.
Doch erst, als Rilla die Upper-Glen-Straße überquert hatte und sich in der Einsamkeit des mondscheingesprenkelten Regenbogentals wiederfand, kam sie wieder richtig zu Bewusstsein. Sie blieb unter einem großen wilden Pflaumenbaum stehen, der in seiner nebelhaften Blüte weiß wie ein Gespenst aussah, und lachte.
»Es gibt im Augenblick nur eins, was wirklich wichtig ist, nämlich, dass die Alliierten den Krieg gewinnen«, sagte sie laut vor sich hin. »Daraus folgt ganz ohne Zweifel, dass die Tatsache, dass ich mit verkehrten Schuhen und Strümpfen zu Irene Howard gegangen bin, absolut keine Bedeutung hat. Trotzdem schwöre ich feierlich, ich, Bertha Marilla Blythe, und der Mond sei mein Zeuge« - Rilla hob theatralisch ihre Hand zu besagtem Mond hinauf-, »dass ich niemals mehr mein Zimmer verlassen werde, ohne zuvor meine Füße inspiziert zu haben, und zwar beide!«
Ein schwieriger Entschluss
Am nächsten Tag hisste Susan die Fahne auf Ingleside zu Ehren Italiens, das gerade den Krieg erklärt hatte. »Jetzt ist die Zeit gekommen, liebe Frau Doktor! Wenn ich daran denke, was da in letzter Zeit an der russischen Front passiert ist! Ich finde, diese Russen sind ganz schön schwierig zu handhaben, der große Herzog Nicholas natürlich ausgenommen. Italien kann von Glück reden, dass es von der rechten Seite aus dazukommt. Ob das allerdings günstig ist für die Alliierten, kann ich nicht beurteilen, dazu müsste ich mehr über die Italiener wissen. Immerhin wird es Franz Joseph, diesem alten Schurken, einen Denkzettel verpassen. Ein schöner Kaiser, wirklich, steht mit einem Fuß im Grab und heckt gleichzeitig einen Massenmord aus.« Dabei schlug und knetete Susan ihren Brotteig mit derart verbissener Energie, als hätte sie es mit Franz Joseph persönlich zu tun.
Walter war mit dem Frühzug in die Stadt gefahren, und Nan hatte sich angeboten, den Tag über aufjims aufzupassen, um Rilla zu entlasten. Rilla hatte alle Hände voll zu tun. Sie half beim Schmücken der Konzerthalle und kümmerte sich um all die Kleinigkeiten, die in letzter Minute noch erledigt werden mussten. Es war ein schöner Abend, obwohl Mr Piyor, wie jemand erzählte, »strömenden Regen« herbeigewünscht und dabei Mirandas Hund einen Fußtritt verpasst hatte. Rilla eilte nach Hause und zog sich hastig um. Zum Schluss hatte alles erstaunlich gut geklappt. Sogar Irene war jetzt da und probte unten mit Miss Oliver ihre Lieder. Rilla war aufgeregt und glücklich und vergaß sogar für einen Augenblick die westliche Front. Sie war stolz darauf, dass sie es geschafft hatte, ihre wochenlangen Bemühungen zu so einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Sie wusste, dass manche Leute dachten, Rilla Blythe besäße weder das Gespür noch die Geduld, ein Konzertprogramm auf die Beine zu stellen. Denen hatte sie es aber gezeigt! Rilla summte vor sich hin, während sie sich anzog. Sie fand, dass sie wirklich gut aussah. Ihre zarten runden Wangen waren vor Aufregung leicht gerötet, was ihr gut stand und ihre Sommersprossen übertönte, und ihr Flaar schimmerte in rötlich braunem Glanz. Sollte sie Apfelblüten im Haar tragen oder ihren perlenbesetzten Haarreif? Nach einigem Hin und Her entschied sie sich für die Apfelblüten und klemmte sich die weiß glänzende Spange hinters linke Ohr. Zum Schluss noch ein Blick auf die Füße. Sie hatte die richtigen Schuhe an, Gott sei Dank. Sie gab dem schlafenden Jims einen Kuss - was für ein warmes, rosiges, seidiges Gesichtchen er hatte - und lief den Hügel hinab zur Konzerthalle. Schon strömten die Leute herbei und bald war die Halle voll besetzt. Ihr Konzert würde ein
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