Zum Frühstück kühle Zärtlichkeit
in der Runde.
»Es war August, so wie jetzt. Mutter und ich warteten vor einer Waldgaststätte. Da kam er endlich heraus, mit einer Frau.« Um überhaupt noch weitererzählen zu können, mußte Helga sich erinnern, daß sie jetzt nicht mehr sechzehn, sondern dreiunddreißig war und daß sie hier unter Erwachsenen saß. »Ich will es möglichst kurz machen«, fuhr sie mit belegter Stimme fort. »Die beiden trieben es miteinander hinter einem Busch. Ich wollte fortrennen, schreien. Aber meine Mutter hielt mir den Mund zu und zwang mich, alles mitanzusehen.« Sie brach ab.
Dr. Normann sagte: »Ich will gar nicht über Ihren Vater reden, aber Ihre Mutter muß ja eine Sadistin gewesen sein.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Helga leise. »Ich habe in dieser Nacht neben ihr schlafen müssen. Und sie hat gesagt: ›So wie dein Vater sind alle Männer, merk dir das.‹«
Alle blickten sie entsetzt an.
»Das war also Ihre erste Begegnung mit dem Geschlechtlichen?« fragte Dr. Normann.
»Ja«, bekannte sie.
»Es ist Ihnen doch klar«, sagte der Arzt ruhig, »daß Ihre Sprödigkeit, Ihr Abscheu, Ihre ganze Fehlhaltung Männern gegenüber auf dieses Erlebnis zurückgeht? Es ist gut, wenn Sie den Zusammenhang sehen, Helga. Sie müssen ihn sehen. Nur dann können Sie den Schrecken von damals überwinden. Die Gruppe wird Ihnen helfen.«
Helga Anderssen nickte. Und sie dachte: Stephi, Laura, Ellen – ganz verschiedene Schicksale. Und doch weben sie sich mit dem eigenen Schicksal zusammen. Frauenschicksale. Die Gruppe, das ist wie ein Band, das alle zusammenhält.
»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagte Dr. Normann zu Stephi Helmers Ehemann.
Martin Helmer starrte den Arzt, der keinen weißen Mantel trug, verstört an. »Ihr Telefonanruf wurde mir in der Firma ausgerichtet, aber ich verstehe nicht, was ich hier soll …«
»Ihre Frau ist bei mir in Behandlung, Herr Helmer.«
»Davon weiß ich doch gar nichts. Was um Gottes willen fehlt ihr denn?«
»In Ihrer Ehe gibt es sexuelle Schwierigkeiten, Sie wissen es besser als ich.«
Martin Helmer hatte das Gefühl, daß er jetzt rot wurde, rot bis über die Ohren.
»Was Sie wahrscheinlich nicht wissen, Herr Helmer«, fuhr Normann ruhig fort, »ist die Tatsache, wie sehr Ihre Frau unter diesen Schwierigkeiten leidet, wie verzweifelt sie darüber ist.«
Martin Helmer blieb stumm. Er wußte nicht, was er sagen sollte.
»Herr Helmer, wir reden unter vier Augen. Ihre Frau weiß es nicht. Sie braucht es auch gar nicht zu erfahren.«
Zum erstenmal sah Martin Helmer auf. »Warum hat Stephi mir nicht erzählt, daß sie zum Arzt geht? Wieso hat sie das heimlich getan?«
»Sie glaubte«, antwortete Dr. Normann, »sie würde ausgelacht von Ihnen.«
»Ich hätte nicht gelacht. Weiß Gott nicht! Wenn es einen Weg gibt, niemand wäre froher darüber als ich.«
»Es gibt einen Weg. Nur müssen ihn die Eheleute gemeinsam gehen.«
Helmer biß sich auf die Lippen. »Was mache ich falsch, Herr Doktor? Sagen Sie es mir. Ich kann alles vertragen.«
»Ich nehme an, Sie wissen, was Sie falsch gemacht haben?«
Helmer blickte den Arzt offen an. »Ich habe mit einer anderen Frau etwas angefangen, das meinen Sie wohl?«
Dr. Normann nickte.
»Wissen Sie …« Helmer suchte nach Worten. »Ich komme mir allmählich als Versager vor. In meinem Kopf hämmert es: Martin, du bist ein Mann, der eine Frau nicht befriedigen kann. Aus diesem Grund bin ich ausgebrochen. Einfach, weil ich mal eine Frau glücklich sehen wollte, seufzen hören – etwas fühlen, was mir in meiner Ehe ganz abhanden gekommen ist.«
»Ich kenne viele Ehen wie die Ihre«, sagte Dr. Normann. »Und Ehemänner wie Sie. Ehemänner, die sich benehmen wie Elefanten im Porzellanladen und die nicht ahnen, daß sie auf dem sichersten Weg sind, alles kaputt zu machen.«
»Und wie soll sich der Ehemann benehmen«, fragte Martin Helmer schnell, »wenn er einen Kumpel anstatt eine Frau geheiratet hat?«
Wie oft schon hatte Normann ähnliche Gespräche geführt – mit ungeduldigen, zornigen, enttäuschten, verbitterten Ehemännern! »Ich kann Ihnen jetzt kein Rezept verraten, Herr Helmer«, saugte er. »Keine Liebestechnik. Keine besonders raffinierte Verführungsmasche. Casanova persönlich könnte Ihre Frau lieben – und sie wäre bei ihm genauso abweisend wie bei Ihnen. Ihre Kälte kommt nämlich nicht von außen, sondern von innen. Sie war ein unglückliches kleines Mädchen, weil sie ein Junge sein mußte und dann auch
Weitere Kostenlose Bücher