Zum Glück Pauline - Roman
genutzt, um neue Kraft zu tanken. Dazu gesellte sich das schreckliche Gefühl: Vielleicht musste ich dieses Kreuz ja nun für immer tragen.
Unter den entgeisterten Blicken der Kollegen trat ich aus dem Büro (immerhin schauten sie mich noch an). Wenn man mich so gebückt und gebeugt dahinschleichen sah, musste man denken, dass ich unter der Last der Schuld fast zusammenbrach. Doch der Grund, warum ich sterben wollte, war vielmehr, dass ich nicht wusste, wie ich meine Schmerzen wieder loswerden könnte. Ich humpelte durch eine Sackgasse, und dass die Psychoanalyse die Rettung sein würde, darauf hatte ich auch wenig Hoffnung. Außerdem konnte ich ja kaum liegen. Der Freud’sche Diwan war wohl nicht das richtige für mich. Ich gab meinen Firmenausweis beim Pförtner in der Eingangshalle ab. Aus und für immer vorbei. Draußen war unverändert schönes Wetter, und die Sonne unternahm den Versuch, mich zu blenden. Bald würden diebösen Wolken kommen, sie verdecken und bestrafen wie ein kleines Kind.
Normalerweise hätte ich jetzt meine Frau angerufen und ihr alles berichtet. Aber unter den besonderen Umständen wartete ich lieber, bis sie nach Hause kam. Wobei, eigentlich war ich mir gar nicht sicher, ob ich ihr das überhaupt erzählen sollte. Ich musste Rücksicht darauf nehmen, dass sie in Trauer war. Hauptsache, ihr ging es einigermaßen gut. Hoffentlich war ihr die Arbeit heute keine allzu große Qual. Ich hatte ihr im Laufe des Tages zwei oder drei SMS geschickt, aber sie hatte nicht darauf geantwortet. Ich verstand. Und auf aufmunternde Worte muss man ja auch nicht unbedingt antworten. Ich hatte ihr geschrieben, dass ich an sie dachte und mich darauf freute, sie heute Abend wiederzusehen. Dabei hatte ich nicht unbedingt jedes Wort, das ich schrieb, auch empfunden, ich glaube, ich schrieb diese Nachrichten ein bisschen mechanisch. Mit der Zeit verkommt auch die Zärtlichkeit manchmal zur Routine. Dachte ich wirklich an sie? Freute ich mich wirklich darauf, sie wiederzusehen, zu lieben und zu trösten? Immerhin war ich imstande gewesen, den Tod ihres Vaters zu vergessen, als meine Sekretärin mich darauf angesprochen hatte. Vor allem sehnte ich mich wohl nach meinen Schmerzmitteln und danach, meine Ruhe zu haben.
Erschöpft von den Ereignissen der vergangenen Tage, schlief ich zu Hause auf dem Wohnzimmersofa ein. Ich wachte, noch bevor Élise zu Hause war, wieder auf. Eineganze Weile stand ich vor dem Bücherregal und blätterte in verschiedenen Werken. Endlich würde ich Zeit zum Lesen haben, dachte ich, und vielleicht würde ich ja sogar mein Romanprojekt wieder in Angriff nehmen. Am Horizont zeichnete sich eine Reise in die Vergangenheit ab. Ich erinnerte mich an die Leidenschaften meiner Jugend, an all das, was ich einmal gemocht und im Laufe der Jahre nach und nach aufgegeben hatte, um ein verantwortungsbewusster Erwachsener zu werden. Ich hatte Lust, meine alten Schallplatten zu hören und selbstgedrehte Zigaretten zu rauchen. Ich glorifizierte meine Jugend und erklärte sie zum Land der großen Freiheit. Die Wirklichkeit hatte natürlich anders ausgesehen. Bis auf die paar Galerienbesuche mit Sylvie war ich nie von den vorgezeichneten Wegen abgewichen. Keiner würde darauf hereinfallen, wenn ich versuchen würde, meine Geschichte umzuschreiben. Das Einzige war mein Hang zu schönen Worten. Ein Hang, den ich beiseitegeschoben hatte und der mir in der Leere dieses freien Nachmittags plötzlich wieder in den Sinn kam. Eine Weile ließ ich mich durch die einzelnen Entwicklungsphasen meines Lebens treiben, wie in einer Tonne, die mich vor Sorgen schützte. Die ganzen konkreten Probleme, die mir bevorstanden, belasteten mich nicht: der Kredit, die Zinsen, die Rechnungen. All das war weit weg, die Realität interessierte mich nicht mehr.
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Intensität der Schmerzen: 8
Gemütslage: nostalgisch
13
Endlich kam meine Frau nach Hause. Sie legte ihre Tasche ab und entdeckte mich im Wohnzimmer. Ich ging auf sie zu.
«Na, wie geht’s dir?»
«…»
«Hast du einen schweren Tag hinter dir?»
Sie drehte sich zu mir herum und sagte immer noch nichts, als wäre sie gar nicht imstande, irgendetwas zu sagen. An ihren Augen konnte ich erkennen, dass sie viel geweint hatte. Nach einem Augenblick brachte sie doch noch etwas hervor:
«Ich will mich scheiden lassen.»
«Was? Was hast du gesagt?»
«Ich will mich scheiden lassen.»
Ich war kurzzeitig etwas unschlüssig, ich stand unter Schock. Dann versuchte ich es
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