Zum Nachtisch wilde Früchte
saß, elegant, mit angegrauten Schläfen, in der geraden Haltung eines alten Offiziers und Herrenreiters, mit sonnengebräuntem Gesicht – die Tage auf Rhodos hatten ihm sichtlich gutgetan – und einem dreikarätigem Brillanten am linken kleinen Finger, mit klaren, forschenden Augen und dünnen, von der Andeutung eines Lächelns überhauchten Lippen, der fand sich plötzlich in einer inneren Befangenheit wieder, in einem leisen Minderwertigkeitskomplex, gegen den schwer anzukämpfen war. Die Gestalt Boltensterns als Gesamtheit drückte Überlegenheit aus. Es war schwer, gegen sie anzukommen.
»Zu was darf ich Sie einladen?« fragte Boltenstern leichthin. »Trinken Sie einen guten Rheinwein mit mir?«
»Danke, ich habe mein Bier.« Muck schüttelte die unangenehme Befangenheit ab, so gut es ging. Er ist mein Gegner, dachte er immer wieder. Wir sitzen hier nicht, um zu plaudern, sondern um uns die Köpfe einzuschlagen. Nicht mit einem Hammer oder einem Brecheisen, dazu sind wir zu vornehm … ein Boltenstern hat andere Möglichkeiten … von einem Wink zur Steuerfahndung, sich einmal um das Einkommen des Harry Muck zu kümmern, bis zur eleganten Erpressung des Verlegers, den lästigen Journalisten Muck zu entlassen. Mit Geld ist es einfach, einen unbequemen Menschen aufrecht sterben zu lassen!
»Gut, bleiben wir beim guten deutschen Bier! Für ein Männergespräch ist das auch die beste Würze.« Boltenstern lehnte sich zurück. In seinem Rücken saß Dr. Lummer, betrachtete ein Bild: ›Visionen‹ und fragte sich, ob der Maler bei der Ausführung dieses Gemäldes auch in einem LSD-Rausch gewesen sein mochte. Anders waren die ›Visionen‹ nicht zu erklären. »Woher kennen Sie mich?« fragte Boltenstern geradezu, als der Kellner auch ihm ein Bier gebracht hatte.
Harry Muck lächelte zurück. »Ich kenne Sie überhaupt nicht, Herr Boltenstern. Das heißt … ich kenne Sie nicht persönlich. Gehört habe ich genug von Ihnen. Als Erfinder, als Stütze der Düsseldorfer Gesellschaft, als Sieger in Reitturnieren, und auch sonst so …«
»Das ›auch sonst so‹ interessiert mich nicht besonders.« Boltenstern trank sein Bier an. »Sie haben über die Affäre Erlanger geschrieben, obgleich es keine Affäre ist. Erst durch Sie wurde sie der Öffentlichkeit überhaupt bekannt, und zwar einseitig. Ich kenne die journalistischen Gepflogenheiten genau; in meinem eigenen Haus werden Dinge zusammengebraten – von meiner Tochter, die eine Kollegin von Ihnen ist –, die später, wenn man sie liest, genau die Morgenkaffeelektüre ausmachen, die der Leser wünscht, obgleich dahinter nichts steht. Eine schillernde Seifenblase! Lehrer mißhandelte Schulkinder! Was war wirklich? Er hat einem aufsässigen Bengel eine Ohrfeige gegeben!« Boltenstern sah Harry Muck aus seinen hellen, kalten Augen an. Ein Blick, der bis zum Gehirn drang! »Der tragische Tod meines Freundes Erlanger eignet sich nun sehr wenig zu journalistischen Spielereien. Ich habe eine doppelte Pflicht, mich um diese Sensationsmache zu kümmern: Einmal im Angedenken meines besten Freundes und Kriegskameraden, auf dem ich nicht den geringsten Schatten dulde, und zweitens als Interessenwahrer der Witwe, der Ihre Berichterstattung einen Nervenzusammenbruch einbrachte.«
Harry Muck schwieg bewundernd. Wie elegant er das sagt, dachte er. Mit einer versteckten Träne, die Mitleid erregt. Mein bester Freund und Kriegskamerad. Keine Schatten auf ihn … Man sollte aufspringen und dem Ehrenmann Boltenstern stumm und ergriffen die Hand drücken.
»Jedes Ding hat zwei Seiten«, sagte Muck. Boltenstern lächelte mokant.
»Sehr klug bemerkt. Haben Sie Philosophie studiert?«
Muck biß sich auf die Unterlippe. Da war es … der kalte, überlegene Spott, die Verachtung, die er tropfenweise zuteilte.
»Ein Anzug besteht aus Stoff, Einlage und Futter«, sagte Muck gepreßt. »Jeder sieht nur die Eleganz von außen … ich liebe es, das Futter aufzutrennen und mir die Einlagen anzusehen. Die Qualität liegt nicht allein im äußeren Eindruck …«
»Ach, Sie waren auch einmal Schneider?« fragte Boltenstern höflich.
»Nein, Anatom. Ich seziere. Mein erster Artikel war ein Schnitt in die Oberhaut … die anderen Artikel werden Schicht um Schicht bloßlegen, bis wir im Inneren sind, bis wir den Krankheitsherd erreicht haben und ihn herausoperieren können.«
»Klingt das nicht ein wenig vermessen und großspurig, Herr Muck?« Boltenstern trank wieder einen Schluck Bier.
Weitere Kostenlose Bücher