Zum Nachtisch wilde Früchte
Katastrophen, die man vorausahnt, nur weiß man nicht, wie und wo sie beginnen werden. Ein Zustand der Hilflosigkeit ist es, der schrecklich ist.
Und genauso fühlte sich Alf Boltenstern, als er am nächsten Tag, auf der Rückfahrt von Turin, in Salzburg die ›Niederrheinischen Tagesnachrichten‹ kaufte und den dritten Artikel Harry Mucks las.
15
Die Expertengutachten aus den USA und England kamen auf dem Funkwege nach Deutschland. Ein junger Assessor der Staatsanwaltschaft übersetzte sie und ordnete sie zu einem gründlichen Dossier. Es waren erschreckende Berichte über Orgien in Studentenkreisen und in Beatschuppen, es waren Zahlen, die alarmierten, eine Liste von Verbrechen blätterte auf, die von Notzucht bis Mord reichte, von Selbstzerfleischung bis zur kaum mehr menschlich zu nennenden Perversität; es waren apokalyptische Bilder von atemloser Wirklichkeit, und alles nur erzeugt von einer Droge, die jeder Chemiestudent herstellen konnte, wenn er die Formel wußte. Noch erschreckender aber war die Machtlosigkeit der Behörden, dagegen vorzugehen. LSD war zu einem Gesellschaftsspiel geworden. Man schätzte allein in den USA 3-4 Millionen Menschen, die LSD nahmen und sich damit auf die ›Reise‹ begaben, in eine andere Welt, die schöner, leichter und problemloser war, überdimensional und frei von aller Relativität. Eine Welt der Genies mit kristallenen Sonnen.
Dr. Breuninghaus, der das umfangreiche Dossier genau durchstudierte, war nach der Lektüre wie gelähmt. Er überblickte die Ohnmacht der Polizei, die sich ergeben würde, wenn auch in Deutschland das LSD zum Volksrausch werden würde. Jegliches Verbrechen würde dann als im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit begangen bezeichnet werden, denn jeder würde sagen: Ich habe LSD genommen! Niemand konnte ihm das Gegenteil beweisen, niemand konnte ihn deswegen verurteilen, denn LSD gehörte noch nicht unter die amtlich festgelegten Rauschgiftdrogen! Noch war es etwas wie eine Schlaftablette, wie Baldriantropfen, wie Vitamin-C-Brause … niemand kümmerte sich darum!
»O Himmel!« sagte Dr. Breuninghaus zu seinen engsten Mitarbeitern, den beiden Ersten Staatsanwälten. »Da kommt etwas auf den Gesetzgeber und auf uns zu, was wir noch gar nicht in seiner Tragweite erfassen können! Wenn wir Deutschen das LSD-Fressen übernehmen wie die Virginiazigaretten oder das Whiskysaufen … dann Gnade uns Gott! Nicht alles, was von draußen kommt, ist Kultur und Zivilisation! Wir sollten in Bonn einmal die Karten auf den Tisch legen!«
Die beiden Ersten Staatsanwälte schwiegen. Nur ihre Mienen drückten Unbehagen aus. Bonn, dachten sie. Wie lange würde es dauern, bis das Dossier LSD alle Instanzen durchlaufen hatte? Erst im Justizministerium, dann im Innenministerium, zuletzt im Gesundheitsministerium. Abteilung nach Abteilung, Referent nach Referent. Und jeder zeichnet ab und läßt es mindestens eine Woche liegen, denn man muß ja beweisen, wie überlastet man ist.
Anders wäre es, wenn jemand den Bundestagsabgeordneten und Ministern lächerliche 80 Mikrogramm LSD in den Kaffee träufeln würde. Geruchlos, geschmacklos, farblos!
»Warum grinsen Sie so?« fragte Dr. Breuninghaus seine Staatsanwälte, als er von dem erschreckenden Bericht aus Amerika aufblickte. Er hatte nach dieser Lektüre keinen Humor mehr und auch keine sarkastische Fantasie. »Die Fröhlichkeit wird Ihnen vergehen, wenn Sie die erste Serie von LSD-Verbrechen zu bearbeiten haben.«
Dr. Breuninghaus war an diesem Tage wirklich humorlos. Richtig zu spüren kriegte es Dr. Lummer, der gebeten wurde, zum Oberstaatsanwalt zu kommen. Es war eine kurze Aussprache, und Dr. Lummer hatte es auch gar nicht anders erwartet.
»Mir liegen genaue Berichte aus den USA vor«, sagte Dr. Breuninghaus und legte seine Hand auf den Aktendeckel, unter dem die erschreckenden Seiten zusammengeheftet waren. »Ihre Ermittlungen erstreckten sich im Falle Erlanger auf den Verdacht eines Mordes, ausgeführt im LSD-Rausch. Die Staatsanwaltschaft hat sich davon überzeugen lassen, daß im Falle Erlanger die Komplexe LSD und Tod des Erlanger zwei getrennte und doch im ursächlichen Zusammenhang stehende Dinge sind. Das klingt paradox … aber diese ganze LSD-Sache ist für uns noch ein Paradoxum. Wenn die Teilhaber der Party vom 21. Mai LSD genommen haben, so ist das nach den heutigen deutschen Gesetzen keine strafbare Handlung. Oder bestrafen Sie Schnupftabak?«
»Nein, Herr Oberstaatsanwalt …«, sagte Kriminalrat
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