Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zum Nachtisch wilde Früchte

Zum Nachtisch wilde Früchte

Titel: Zum Nachtisch wilde Früchte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
großen Einrücken befuhr er die Achterbahn. Hier hatte er nichts zu sagen. Ein wenig käsig im Gesicht verließ er nach einer donnernden Berg-und-Tal-Fahrt den kleinen Wagen und bemühte sich, aufrecht und ohne zitternde Knie wegzugehen. Man ist eben doch in einem gewissen Alter, Gottverdammt noch mal, dachte er.
    So war alles bereit, als am 29. August und am 30. August die Marschkolonnen hinaus zur Pegnitz rückten. Da man es im alten Geist machen wollte, hatte sich außerhalb des Festplatzes, direkt am Fluß, ein Zeltlager gebildet, wo in kürzester Zeit zweitausend alte Soldaten hausten. Der Geruch von Erbsensuppe zog über das Land, im Fluß badeten nackte Männer, Gesang durchbrach den Sommertag, an Leinen zwischen den Zelten schaukelten wieder gewaschene Socken und Unterhemden.
    Major Ritter trieb es die Tränen in die Augenwinkel. Er stand oben auf der Straße und überblickte das Gewimmel im Zeltlager.
    Manöver in Brandenburg, dachte er.
    Polenfeldzug. Biwak an der Weichsel.
    Der Sommervormarsch in Frankreich.
    Die August-Offensive an der Rollbahn.
    Sie haben es nicht vergessen, die Kumpels! Sie benehmen sich wie damals. Wie gut das dem Herzen tut.
    Am 30. August, morgens um elf Uhr, begann der große Vorbeimarsch an General v. Rendshoff und General v. Kloph. Der 91jährige saß zusammengesunken in seinem Rollstuhl, ließ sich die Fliegen vom Gesicht wedeln und fragte alle zehn Minuten hinter der vorgehaltenen Hand: »Wann kommt der Kaiser?«
    Die Aufmarschstraße war durch Seile abgesperrt und breit genug für eine Zwölferkolonne. Links von der Ehrentribüne begann der Teil der Buden, Verlosungsstände und die Achterbahn. Gegenüber lagen die drei Festzelte mit den langen Tisch- und Sitzbankreihen. Vor dem Festplatz, zum Zeltlager hin, formierten sich die Marschkolonnen.
    Major Ritter fuhr in einem offenen Jeep herum, schlichtete, brüllte, drohte, kommandierte und stand stramm. Die Kompanien standen endlich, die Ehrengäste saßen auf der Tribüne, die Fahne der Bundesrepublik und eine große schwarzweißrote Fahne gingen an den Masten empor, ein Anblick, der in die Knochen fuhr und die Augen heroisch blicken ließ.
    »Noch zehn Minuten!« sagte Major Ritter und blickte auf seine Armbanduhr. Ordner Nummer 1, der die Spitze – Soldaten sagen tête dazu – auf die Reise schicken mußte, nickte. Vor der Ehrentribüne nahmen die Posten Aufstellung. Posten 1: Beginn des Stechschrittes, Posten 2: Kommando – Die Augen … links! Posten 3: Augen – geradeaus! Posten 4: Übergang in normalen Marschschritt …
    Noch zwei Minuten.
    General v. Rendshoff erhob sich von seinem Korbstuhl und trat drei Schritte vor an den Rand der Tribüne. Neben ihm rollte der alte v. Kloph heran. Seine Augen waren verschleiert.
    »Es lebe Euer Majestät …«, stammelte er.
    Die Kapelle der tête – Verzeihung, der Spitze – hob die Instrumente. Trommel rum, Klöppel hoch, Querpfeifen an die Lippen.
    »Achtung!« rief Ordner Nummer 1: »Fahnenkompanie fertig!«
    Über die Achterbahn ratterte noch ein Wagen. Major Ritter sprang in seinen Jeep. Ein Feldherr muß bei seinen Truppen sein!
    In diesem Augenblick sah er den Mann, der an der Wand einer Holzbude lehnte und hinüberstarrte zu der großen, von Fahnen und Girlanden umwehten Tribüne.
    Ein Mann in einem zerknitterten Anzug. Ohne Orden, ohne die Festplakette im Knopfloch. Mit einem breitkrempigen Hut, den er weit über die Stirn gezogen hatte.
    Und darunter war kein Gesicht mehr, sondern die Miniaturausgabe einer Mondlandschaft. Ein zerklüftetes Gebirge aus Narben und Hautfalten.
    »Hermann …«, stotterte Ritter. Er sprang aus dem Jeep und rannte auf den einsamen Menschen zu. »Mensch … Hermann … was machst du denn hier? Wie siehst du denn aus? Wo kommst du her? Warum versteckst du dich? Schreibert … erkennst du mich denn nicht. Dein Major …«
    Ritter holte tief Atem. Ein Frieren durchlief ihn. Schreibert starrte an ihm vorbei zur Tribüne. Er hatte den Blick eines ausgehungerten Stieres.
    »Wir alle erwarten dich …«, stotterte Ritter. »Alle sind da … Toni, Alf, Wilhelm, Hans, Werner, Josef, sogar der krumme Hund, der Müller 5, die ganze Kompanie, die noch überlebte, ist da … vierzehn Jungs … Hermann!«
    Ordner Nummer 1 ließ die Hand fallen. »Los!«
    Das Trommlerkorps hämmerte und flötete los. Ihm folgte der Musikzug des Regiments. Dann traten die Spitzenoffizier an, gefolgt von der Fahnenkompanie. Einhundert Fahnen knatterten im warmen Sommerwind.

Weitere Kostenlose Bücher